Laut Putin bringen seine Truppen "Frieden" in die besetzten Gebiete. Doch der ukrainische Menschenrechtler Lysjanskyj sieht Russlands Rückhalt in der Bevölkerung schwinden.
In Luhansk und Donezk herrscht bereits seit acht Jahren Krieg; mehr als 14.000 Menschen haben ihr Leben verloren. Seit dem Kriegsbeginn 2014 dokumentiert der ukrainische Menschenrechtler Pawel Lysjanskyj die dort begangenen Kriegsverbrechen. Er ist Direktor des Instituts für strategische Studien und Sicherheit in Kiew und schildert im ZDFheute-Interview, wie er die derzeitige Situation in den selbsternannten Volksrepubliken wahrnimmt.
Ganz deutlich sieht er in den besetzten Gebieten "einen Prozess der Entukrainisierung und der Errichtung einer Besatzungsmacht." Laut Lysjanskyj werden "Menschen mit pro-ukrainischen Einstellungen, Beteiligte an seit 2014 andauernden Kampfhandlungen und Geschäftsleute, die die Ukraine unterstützen, verhaftet [und] in Filtrationslager gebracht."
Journalist: "Entfremdung zur Ukraine" hat zugenommen
Gleichzeitig würde mit allen Mitteln versucht, die Gebiete stärker auf Russland auszurichten. Unter dem Vorwand der "Entnazifizierung" würden "staatliche Symbole beseitigt, ukrainische Schulbücher aus den Schulen entfernt und der Schulunterricht vollständig auf die russischen Lehrpläne umgestellt."
Laut Nikolaus von Twickel, der als freier Journalist über die besetzten Gebiete berichtet, ist es "angesichts massiver anti-ukrainischer Propaganda und des Exodus der pro-ukrainischen Eliten wenig überraschend", dass "die Entfremdung zur Ukraine zugenommen hat".
"Da die Leute russisches Fernsehen konsumieren und alles nach Russland ausgerichtet ist, ähnelt die öffentliche Meinung wahrscheinlich sehr dem Stimmungsbild in Russland", betont auch Marcel Röthig, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung Ukraine und Moldau.
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Umfragen im Donbass schwierig
Seit Kriegsbeginn 2014 sind repräsentative Umfragen in den "Volksrepubliken" nahezu unmöglich. Eine transatlantische Forschungsgruppe führte im Januar 2022 eine repräsentative Telefonumfrage mit 4.025 Bewohner*innen des Donbass durch, die andeutet, dass sich die jahrelange russische Propaganda in den sogenannten Volksrepubliken teilweise verfängt.
Das ukrainische Umfrageinstitut KIIS und das britische Institut R-Research befragten die Menschen im ukrainisch kontrollierten Teil des Donbass; KIIS und das russische Levada Marketing Research Umfrageinstitut die Bevölkerung in den "Volksrepubliken".
Bewohner: Westen und Ukraine tragen Schuld
Dabei gaben 70 Prozent der von Levada Marketing Research und 40 Prozent der von KIIS befragten Bewohner*innen der "Volksrepubliken" an, dass der Westen und die Ukraine die Schuld an dem andauernden Konflikt tragen würden. Unter 10 Prozent sahen die Verantwortung bei der russischen Regierung und den "Volksrepubliken".
Eine weitere Zahl fällt ins Auge: Mehr als die Hälfte der Befragten gab an, dass es ihnen egal sei, in welchem Land - Ukraine oder Russland - sie lebten. Hauptsache, sie erhielten ein gutes Gehalt und anschließend eine gute Rente.
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Lysjanskyj: Unumkehrbare Prozesse in Gang gesetzt
Russlands Krieg gegen die Ukraine hat laut Lysjanskyj jedoch "unumkehrbare politische Prozesse [zum Nachteil Russlands] in Gang gesetzt."
"Es gibt immer noch Menschen, die die Russische Föderation unterstützen und mit ihr zusammenarbeiten, aber es sind nur noch sehr wenige von ihnen übrig," so der ukrainische Menschenrechtler.
Wachsendes Unverständnis in der Zivilbevölkerung
"Männer werden gewaltsam an die Front gebracht und in den Tod geschickt", "eine Zwangsmobilisierung findet statt" - das mache etwas mit den Menschen. "Die Menschen verstehen nicht, warum Charkiw und Mariupol zerstört werden mussten und warum die Zivilbevölkerung stirbt. Viele derjenigen, die Russland unterstützt haben, sind nun als Geflüchtete nach Europa aufgebrochen, weil sie mit Russland nichts mehr zu tun haben wollen. […] Die Menschen sind von Russland vollkommen desillusioniert."
In den besetzten Gebieten ist zu spüren, dass die selbsternannten Volksrepubliken seit 2017 wirtschaftlich komplett von Russland abhängig sind. "Die Auswirkungen [der Sanktionen gegen Russland] werden genau die gleichen sein wie in vergleichbaren russischen Regionen", so von Twickel.
Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage droht
Eine der Sanktionen ist die Abschneidung Russlands vom internationalen Zahlungsverkehr. Für die besetzten Gebiete heißt das konkret, dass "keine Überweisungen mehr von Russland in die Volksrepubliken getätigt werden können," so Marcel Röthig.
Pawel Lysjanskyj geht daher davon aus, dass sich "die wirtschaftliche Lage in ORDLO [besetzte Gebiete Luhansks und Donezks] von Tag zu Tag verschlechtern wird". In einer Region, wo bereits im Januar 11,5 Prozent der Bevölkerung angaben, dass sie nicht genug Geld für Essen haben, droht eine drastische Verschlechterung mit gravierenden humanitären Folgen. Putins "Friedensmission" bringe den Bewohner*innen der selbsterklärten Volksrepubliken statt Frieden noch mehr Leid.
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