Er gilt als Begründer der Soziologie. Doch Max Weber war weit mehr als das: Er hat die Entwicklungen der modernen Welt schon vor mehr als 100 Jahren vorgedacht.
Der gewaltsame Tod von George Floyd bewegt die Welt. Allein in Berlin haben am vergangenen Wochenende 15.000 Menschen protestiert. Die Demonstrationen haben zu einer Diskussion darüber geführt, ob sich solche Menschenmassen mit den Corona-Schutzmaßnahmen vereinbaren lassen. Was ist wichtiger: Versammlungsfreiheit oder der Schutz der Gesundheit?
Wie wichtig solche "Wertekonflikte" für pluralistische Demokratien sind, das hat der Soziologe Max Weber bereits vor mehr als 100 Jahren analysiert. "Werte müssen in einem freien öffentlichen Konkurrenzkampf aufeinanderprallen", sagt der Historiker Gangolf Hübinger. "Allerdings müssen die Institutionen sicherstellen, dass die Freiheitsspielräume aller an diesem Konfliktdiskurs gesichert sind. Das ist für ihn die Leistung der Demokratie", so Hübinger.
Freiheit und Zwang - die Ambivalenz der kapitalistischen Moderne
Webers Leben war bestimmt von epochalen Umbrüchen. Als das Deutsche Kaiserreich 1871 gegründet wird, ist er sechs Jahre alt. 1893, mit 29 Jahren, hat er bereits seine erste Professur. Die kapitalistische Weltwirtschaft entwickelt sich. Und die moderne Massengesellschaft mit mehr Wohlstand und demokratischer Teilhabe. Doch mit dieser Entwicklung entstehen auch neue Einschränkungen. "Stahlgehäuse der Hörigkeit" - so bezeichnet Weber die Macht der Bürokratie.
Freiheit und Zwang - diese Ambivalenz der kapitalistischen Moderne sah Max Weber voraus: "Deshalb ist das die Grundfrage für ihn, wie Reste individueller Bewegungsfreiheit unter diesen modernen Bedingungen überhaupt noch möglich sein sollen", sagt Hans-Peter Müller. Der Soziologe ist Autor des Buchs: "Max Weber. Eine Spurensuche." Weber war Müller zufolge von einer Grundfrage getrieben.
Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus
In seinem Werk "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" von 1904 zeigte Weber, wie protestantische Reformatoren und Puritaner dem Kapitalismus den Weg geebnet hatten. Erfolg galt bei ihnen als Beweis göttlicher Gnade. Ihre asketische Lebensführung machte sie materiell erfolgreicher als andere und damit zum Vorbild.
"In der Anfangszeit hat der Puritanismus mit seiner Berufsethik dem Kapitalismus als moralischer Steigbügelhalter gedient", so Müller. "Warum? Weil im Puritanismus die Idee ist, dass man in den Himmel kommt, wenn man sich anstrengt. Am Anfang steht eine religiöse Heilsprämie. Aber Weber ist nüchtern genug, um zu sehen, dass der etablierte Kapitalismus eines solchen Geistes nicht mehr bedarf."
Im Kapitalismus sieht Weber eine Schicksalsmacht. Doch erst der Glaube, alle Dinge durch Berechnung beherrschen zu können, hat der Moderne in Europa zum Durchbruch verholfen. In seinem Vortrag "Wissenschaft als Beruf" von 1917 spricht er von der "Entzauberung der Welt" durch den Siegeszug der Wissenschaften. Doch mit der Rationalisierung aller Lebensbereiche wächst auch die Gefahr von Gegenbewegungen. Dass heute wieder Verschwörungstheorien auf dem Vormarsch sind, hätte ihn sicher nicht erstaunt.
Max Weber stirbt am 14. Juni 1920 mit 56 Jahren an den Folgen der Spanischen Grippe. Zunächst gerät er in Vergessenheit. Das liegt auch daran, dass er nur ein fragmentarisches Werk hinterlassen hat. Doch 100 Jahre später ist seine "illusionslose Wirklichkeitswissenschaft" gefragt wie nie zuvor. Mit seinem Denken hat er Spuren gelegt, an die heute zahlreiche interdisziplinäre Forschungsprogramme anschließen: "Weil er uns verstehen lässt, wie wir geworden sind, was wir sind und welche Bedürfnisse uns die moderne Welt erfüllen lässt und welche aber nicht", sagt Hans-Peter Müller. "Und das wir uns da wappnen müssen gegenüber diesen modernen Zumutungen".
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Zehntausende bei Demos in ganz Deutschland
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