Die (züchtige) Stil-Revolution der orthodoxen Jüdinnen

    Mode-Trends im Judentum:Die (züchtige) Stil-Revolution der Orthodoxen

    von Miriam Amro
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    Strenggläubige jüdische Frauen kleiden sich nach religiösen Sittsamkeitsgeboten. Doch sie denken das züchtige Mode-Diktat neu. Und die britische Prinzessin Kate ist ihre Stilikone.

    Ultraorthodoxe Mode
    Schaufenster der Boutique in der Rabbi Avika Street, der "Champs Elysée der Ultraorthodoxen" von Bnei Brak.
    Quelle: ZDF/Miriam Amro

    Von außen sieht sie aus wie jede andere: die kleine Modeboutique in der Rabbi Avika Street, der "Champs Elysée der Ultraorthodoxen" von Bnei Brak, einer Kleinstadt nordöstlich von Tel Aviv. Im Schaufenster sind knallpinke, waldgrüne und gelbe Kleider ausgestellt. Was zunächst nicht ungewöhnlich klingt, kommt im Leben der orthodoxen und ultraorthodoxen Jüdinnen einer Revolution gleich. Und die israelische Stylistin Efrat, die hier in dieser angesagten Boutique arbeitet, ist ein Teil davon.

    Bnei Brak ist die orthodoxe Parallelwelt Tel Avivs

    Man muss sich das so vorstellen: Wer in Israels hipper Metropole Tel Aviv in die Buslinie 161 steigt und bis zur Endstation sitzen bleibt, fährt direkt hinein in eine Parallelwelt. In Bnei Brak leben orthodoxe und ultraorthodoxe Gemeinden vom Rest des Landes abgeschottet. Oft ohne Fernseher und Smartphones, der Internetzugang ist begrenzt. Sie gehen in andere, religiöse Schulen und sind weitgehend von der Pflicht ausgenommen, den Militärdienst zu leisten.
    Man erkennt sie sofort: Die Männer in tiefschwarzen Mänteln, großen dunklen Filzhüten und den rituellen weißen Bündeln aus langen Woll-Fäden (Zizits), die unter ihren Hemden hervorschauen. Die Frauen sieht man meist in schwarzen Röcken, einige knöchellang, andere gehen eine Handbreite über das Knie. Das Haar wird unter einer Perücke (Scheitel) oder einem Kopftuch (Tichel) verdeckt. Es gilt, nicht aufzufallen. Nichts am Körper einer Frau soll den Blick eines fremden Mannes auf sich ziehen. Keine grelle Farbe, kein freiliegendes Knie, kein Dekolleté, kein schrilles Accessoire, kein Parfum.
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    Zniut beschreibt, wie sich orthodoxe Jüdinnen kleiden

    Bei absoluter Stille würde man wahrscheinlich nicht mal den Klang ihrer Schuhabsätze hören können. Die Mehrheit der streng gläubigen Frauen in Bnei Brak sorgt ungern für Aufsehen. Schon gar nicht durch ihren Kleidungsstil. Was sich schickt, steht in den Sittsamkeitsgeboten der Zniut. Übersetzt heißt das so viel wie Bescheidenheit. Die Zniut definiert, wie sich religiöse Jüdinnen in der Öffentlichkeit zu benehmen und anzuziehen haben. "Ziniesdig" sein heißt, respektvoll zu sein.

    Die Zniut ist fluide. Nichts ist in Stein gemeißelt. Aber immer mehr Strenggläubige sind Teil einer sich der säkularen Welt öffnenden Gruppe. "Ultraorthodoxe Frauen zum Beispiel aus den chassidischen Gemeinden streben immer häufiger eine höhere Bildung an, verdienen mehr und wollen in ihren Berufen professionell aussehen. Sie wissen, die Grenzen der orthodoxen Kleidungsregeln müssen eingehalten werden, - aber diese Grenzen kann man ja dehnen", erklärt Dr. Salcberg-Block, die seit vielen Jahren zu ultraorthodoxer Mode forscht.

    Deshalb experimentieren und tricksen die Frauen mit Farben und Schnitten. Alles wird auf seine Weise gewagt. Außerdem haben die Social-Media-Plattformen zu dem Wandel beigetragen. "Instagram ist die ultimative Inspirationsquelle geworden. Was glauben Sie, wie viele ultraorthodoxe Influencerinnen es mittlerweile gibt!", ergänzt sie.

    Züchtige Mode, modern interpretiert

    Und dann ist da Efrat: weiße Spitzenbluse, knielanger Pünktchen-Rock, ihre blond gefärbten Haare schauen unter einer funkelnden Mütze hervor.
    Ultraorthodoxe Mode
    Efrat, Stylistin in Bnei Brak
    Quelle: ZDF/Miriam Amro

    Wer sagt, dass züchtige Mode nicht auch modern sein darf?

    Efrat, Stylistin in Bnei Brak

    Das Geschäft: weiß-gefliester Boden, silberfarbene Tapete. Im Hintergrund singt Taylor Swift ihren aktuellen Hit "Anti-Hero". Man hat das Gefühl, dieser Ort ist eine kleine Welt in einer großen. Die hohen Kleiderständer sind so voll behangen mit neuen Roben, dass sie sich unter ihrer Last biegen. Es ist offensichtlich: Die ultraorthodoxe Modebranche boomt.

    Was man wissen muss: Die eine Definition von ultraorthodoxer Mode gibt es nicht. "Das äußere Erscheinungsbild der orthodoxen Frauen ist von Gruppe zu Gruppe, ultraorthodox bis modern orthodox, unterschiedlich und unterliegt ebenso wie in anderen Gesellschaften einem ständigen Wandel", erklärt die Soziologin Dr. Sima Salcberg-Block von der Hebräischen Universität Jerusalem. "Einige nehmen eine Größe mehr, damit ihr Körper nicht zur Schau gestellt wird. Für andere ist Rot ein Tabu und sie bevorzugen ausschließlich Schwarz oder Blau", betont sie.

    Prinzessin Kate als Mode-Vorbild

    Efrat arbeitet seit einem Jahr hier als Stilberaterin. Sie schiebt die neue Kollektion vor. "Schauen Sie, wir haben bestickte Chiffon-Kleider in pink, altrosé oder Yves-Klein-blau im Sortiment. Die Farben werden zwar immer mutiger, die Ausschnitte bleiben aber stets hochgeschlossen.
    Die Ärmel bedecken die Ellenbogen. "Wir nennen es den Kate-Middleton-Effekt - all das würde die Princess of Wales zu offiziellen Anlässen auch tragen. Sie ist das Stilvorbild der ultraorthodoxen Modeszene!" Die Mutter von drei Kindern, die ihre Liebe zur Mode von ihrer Großmutter vererbt bekommen hat, zählt zu einer immer größer werdenden Gruppe an Modebegeisterten, die für sich und ihre Kundinnen die Regeln der Zniut neu interpretiert.

    Boutique mit Koscher-Zertifikat

    Jedes Kleid in diesem Geschäft hat eine Botschaft. Und jedes ruft: Ich bin nicht unsichtbar! Einige Kleider sind mit Federn an den Ärmeln versehen, andere mit Strasssteinen am Kragen. Dennoch: Hosen oder Oberteile mit Spaghetti-Trägern sucht man hier vergebens. Die Boutique besitzt sogar ein Koscher-Zertifikat, ausgestellt von einem Rabbiner. Das ist obligatorisch für den guten Ruf.

    Meine Kundinnen hören von unserer Auswahl an Kleidern, laufen am Schaufenster vorbei und denken: Hey, das ist irgendwie ein anderer Style, zurückhaltend und trotzdem cool!

    Efrat, Stilberaterin in der koscheren Boutique

    Zu ihren Kundinnen zählen Frauen aus dem ganzen Land. Sie kommen nach Bnei Brak, um sich neu einzukleiden: Für ihre Hochzeiten, Bar Mitzwas (die Feier der religiösen Mündigkeit), zu Chanukka (dem Lichterfest) oder zu Jom Kippur (dem höchsten jüdischen Feiertag).
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    Rabbi Avika Street, der "Champs Elysée der Ultraorthodoxen" von Bnei Brak
    Quelle: ZDF/Miriam Amro

    Für orthodoxe Frauen hier in Bnei Brak ist Efrat ebenfalls eine Art Influencerin. Und ihr Credo lautet: Den Stil-Regeln zu folgen, heißt, auch mal seine eigenen zu machen.
    Miriam Amro arbeitet im ZDF-Studio Tel Aviv.

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