An Weihnachten - während in Auschwitz Menschen verbrannten - sangen die Deutschen "Stille Nacht". Anna Szałaśna über ihre Erinnerungen an das KZ und wie sie über Deutsche denkt.
Vor 77 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau befreit. Die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten, wird immer schwieriger - es gibt nur noch wenige Zeitzeugen.
Anna Szałaśna wurde am 31. Oktober 1926 in Chryplin geboren. Von klein auf ist Musik ihre große Leidenschaft. Sie besucht die Musikschule und lernt Klavier spielen. Ihre Kindheit und Jugend werden durch den Krieg brutal unterbrochen.
Im Juni 1943 wird sie im Alter von 16 Jahren von den deutschen Besatzern nach Auschwitz-Birkenau deportiert - dem größten Menschenvernichtungslager der Nazis. Die Gestapo hatte einen Brief abgefangen, in dem die Polin auf den Moment der Befreiung von den Deutschen hofft.
In Auschwitz wird sie Häftling Nummer 47.628. Im August 1944 meldet sie sich freiwillig für eine Fahrt nach Ravensbrück, wo sie in den Siemens-Werken bis zur Befreiung arbeitet. Im April 1945 gelangt sie mit dem Roten Kreuz nach Schweden. Im Gespräch mit dem ZDF redet Zeitzeugin Anna Szałaśna über:
... ihre Erinnerungen an die ersten Momente nach der Ankunft in Auschwitz:
"Man schreibt uns die Lagernummer auf. Dann gehen wir durch das Lager zu einem kleinen Gebäude. Wir gehen rein: Menschenmenge, Totenköpfe, Soldaten. Und die Soldaten rufen auf Deutsch: 'Ausziehen!'. Dann ziehen wir unsere Jacken oder unsere Pullover aus. 'Ausziehen', hören wir, 'alles ausziehen!' (Sie sagt es auf Deutsch, Anm. d. R.)
Es gibt keine andere Wahl. Und man muss sich auf einen Stuhl setzen. Leute wurden angestellt, um die Kopfhaut bis auf die nackte Haut zu rasieren. Die Haare unter den Achseln, überall wo Haare sind, wird man rasiert. Ich sehe meine Freundinnen, die schon rausgehen. Ich setzte mich und eine der da angestellten Jüdinnen sagt: 'So hübsche Haare. Ich kann es nicht.' Und sie hat mich verlassen. Und ich sagte: 'Rasiere mir die Haare ab, weil meine Freundinnen schon weg sind!'
Die zweite will es auch nicht. Endlich nimmt die dritte, eine deutsche Frau, den Rasierapparat und rasiert mich. Dann gehe ich raus, eine große Halle, da sitzen nackte Frauen auf den Bänken. Ich denke mir, das sind doch nicht sie. Eine ruft: 'Anna, Anna, warum kommst du nicht zu uns?' Jesus Maria! Rasierte Haare und die Nacktheit verändern den Menschen so sehr, dass ich nicht einmal meine Freundinnen erkennen konnte. Haarlos und nackt. Schrecklich."
... die Misshandlungen von Gefangenen durch die Deutschen:
"'Blocksperre!' Was passiert gleich? Man hört den Zug. Woher kommt dieser Zug? Wir schauen durch einen Riss in den Brettern. Das kann man nicht vergessen. Ich habe es bis heute vor Augen.
Ein Güterzug ist angekommen. Deutsche Gestapo-Männer mit Peitschen und Hunden entlang des Zuges. Die Türen des Güterzugs öffnen sich und da stehen Frauen mit Kindern auf dem Arm.
Man hört: 'Raus, raus, raus!' Die Frauen heulen, schreien, Mutter Gottes! Die Kinder werden in Säcke hineingeworfen!"
... den Umgang mit dem täglichen Terror:
"Daran kann man sich nicht gewöhnen. An das Schreckliche kann man sich nicht gewöhnen. Man gewöhnt sich an gute Dinge. An den Anblick der Morde kann man sich nicht gewöhnen. Eine Nacht, es ist schwül, ich brauche Luft, ich muss atmen. Ich gehe leise durch den Block, öffne die Tür, doch es ist dunkel.
Die Erinnerungskultur der Deutschen galt lange als vorbildlich. Aber dennoch: Rechte Kräfte sind wieder auf dem Vormarsch. Rückt das Gedenken an den Holocaust in den Hintergrund?
Ich öffne die Tür und atme zweimal durch und ich denke, ich werde gleich umfallen. Ich sehe sowas wie eine brennende Stadt vor mir. Rotes Feuer. Kein Schrei, nur Feuer. Ich frage mich, woher kommt dieses Feuer. Ich frage jemanden an einem anderen Tag und er antwortet: 'Weil die Deutschen mit dem Brennen in den Krematorien nicht nachkommen konnten'.
Es wird ein künstlicher Nebel erzeugt und die älteren Männer fallen in ein lebendiges Feuer. Wer kann darauf kommen? So erklärt es mir der Mann."
... das Trauma von Auschwitz:
"Wir teilten das Brot, das wir gerettet hatten. Wir haben gebetet. Und dann hören wir plötzlich über alle Lautsprecher auf Deutsch: 'Stille Nacht, heilige Nacht'. (Sie singt die ersten Worte auf Deutsch, Anm. d. R.) Mutter Gottes! Entsetzlich! Die Deutschen, die am Anfang des Lagers Dienst hatten, sangen 'Stille Nacht, heilige Nacht'. Laut, durch die Lautsprecher.
Das Feuer aus dem Krematorium ist zwei Meter hoch. Und sie singen 'Stille Nacht, heilige Nacht'. Mein Gott, als ich nach Polen zurückkehrte und wenn 'Stille Nacht' gesungen wurde, ging ich weg, weil ich es nicht hören konnte. So eine schreckliche Erinnerung."
... das heutige Verhältnis zu den Deutschen:
"Ich weiß nicht, was Hass ist. Vielleicht mag ich jemanden nicht. Aber Hass? Was ist Hass? Mein Vater hat uns beigebracht, dass es keine Rolle spielt, welche Nationalität oder Religion man hat, denn niemand wählt sie sich aus vor der Geburt. Wichtig ist, dass man Mensch ist."
Das Interview führten Natalie Steger und Kinga Woloszyn-Kowanda unter Mitarbeit von Roman Krysztofiak.