Pflegenotstand: "Grenzt an modernen Menschenhandel"

    Interview

    Ausländische Pflegekräfte :"Das grenzt an modernen Menschenhandel"

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    Die Zahl ausländischer Pflegekräfte in Deutschland ist rasant gestiegen. Die meisten werden durch private Agenturen vermittelt - doch nicht immer läuft die Rekrutierung fair ab.

    ZDFzoom: Ware Pflegekraft?
    In Deutschland mangelt es an Pflegekräften. Daher setzen immer mehr medizinische Einrichtungen auf Fachkräfte aus dem Ausland.
    Quelle: Gettyimages

    ZDFheute: Wie ist der Markt für die Vermittlung von ausländischen Pflegekräften entstanden?
    Isabell Halletz: Das hat sich ab 2012 verstärkt entwickelt. Länder wie beispielsweise die Philippinen, aber auch Vietnam, Serbien und Bosnien haben sich für die Rekrutierung durch private Vermittlungsunternehmen geöffnet. Seitdem sind sie wie Pilze aus dem Boden geschossen. Ein lukratives Geschäft, weil wir Fachkräftemangel in Deutschland haben und Pflegepersonal gebraucht wird.

    ... ist Geschäftsführerin des Arbeitgeberverbands Pflege und Sprecherin der Bundesarbeitsgemeinschaft Ausländische Pflegekräfte, die sich für einheitliche, transparente und zukunftsfähige Regelungen für die Zuwanderung und Beschäftigung ausländischer Pflegekräfte in Deutschland einsetzt.

    ZDFheute: Wie viele Agenturen gibt es, wie viele davon sind seriös?
    Halletz: Wie viele Unternehmen es gibt, wüssten wir auch gerne. Uns fehlt eine Registrierungsstelle, bei der man sich informieren kann, wer in dem Geschäft überhaupt aktiv ist. Außerdem fehlen gesetzliche Rahmenbedingungen - um differenzieren zu können, wer seriöse Vermittler*innen sind. Wir wissen also gar nicht, wer sich alles auf diesem Markt tummelt.

    ZDFzoom
    Quelle: ZDF

    Sehen Sie die Doku "Ware Pflegekraft? - Das fragwürdige Geschäft privater Vermittlungsagenturen" am Mittwoch, 30.06.21 um 22.45 Uhr live beim ZDF und jederzeit in der ZDF Mediathek.

    ZDFheute: Wie erleben Sie diesen Markt?
    Halletz: Durch die Nichtregulierung sind natürlich Tür und Tor offen für unseriöse Praktiken.

    Das ist manchmal schon fast moderner Menschenhandel.

    Manche Unternehmen wollen einfach nur Profit erzielen. Sie locken Pflegekräfte mit falschen Versprechungen nach Deutschland.
    ZDFheute: Was heißt das genau?
    Halletz: Wir hören immer wieder, dass Pässe von Pflegekräften aus dem Ausland einbehalten werden oder Pflegekräfte mit Knebelverträgen gezwungen werden, bei einem Arbeitgeber zu bleiben.

    Dies hat nichts mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit, die wir in Deutschland haben und mit einer ethisch-korrekten Anwerbung zu tun.

    Wichtig sind daher ein regulierter Prozess und Transparenz darüber, welche Rechte und auch Pflichten ausländische Pflegekräfte in Deutschland haben. Es kann nicht sein, dass Pflegekräfte aus dem Ausland zur Kasse gebeten werden, weil sie zu wenig Informationen haben.
    Leider hat man keine Informationen darüber, wie viele Pflegekräfte aus dem Ausland in Schwierigkeiten geraten. Umso wichtiger sind klare und transparente Prozesse - um zu vermeiden, dass Pflegekräfte von unseriösen Vermittlern zu Unrecht unter Druck gesetzt werden. Auch die Arbeitgeber haben die Pflicht, ihre angeworbenen Pflegekräfte aus dem Ausland über ihre Rechte aufzuklären.
    ZDFheute: Weiß die Politik davon?
    Halletz: Es werden immer wieder Einzelfälle publik, die mit Sicherheit auch der Politik bekannt werden. Deshalb setzt sie sich auch für eine Zertifizierung der fairen Vermittlung aus dem Ausland ein. Die Zusammenarbeit zwischen den deutschen Botschaften im Ausland und der Politik muss hinsichtlich der Aufklärung noch verbessert werden. 
    ZDFheute: Was müsste die Politik tun?
    Halletz: Wir brauchen eine Registrierungspflicht für die Unternehmen, die anwerben wollen, um kontrollieren zu können, wer überhaupt aktiv ist in dem Bereich. Es müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen verbessert werden, um die Pflegekräfte zu schützen.
    Und es braucht eine Stelle, an die sie sich wenden können, wenn sie Probleme haben. Außerdem fordern wir von der Politik mehr finanzielle Unterstützung, damit Arbeitgeber eine gute Integration gewährleisten können.
    ZDFheute: Die Politik hat ein freiwilliges Gütesiegel entwickeln lassen. Was verändert das?
    Halletz: Ich hoffe, dass die Unternehmen, die fair und ethisch korrekt arbeiten, motiviert werden, sich auch zertifizieren zu lassen.

    Das Gütesiegel soll mehr Transparenz in den Markt bringen.

    Es soll vor allen Dingen Rahmenbedingungen schaffen, an die sich alle Beteiligten halten müssen.
    Zum Beispiel sollten Informationen transparent sein - also zu welchen Bedingungen die Pflegekräfte in Deutschland angestellt sind, welche rechtlichen Schritte erfolgen müssen im Bereich der Anerkennung, welche Prozesse auf die Pflegekräfte zukommen, wenn sie sich für Deutschland entscheiden. Vor allen Dingen ist die Sprachqualifizierung ganz wichtig - also wer welche Kosten trägt.  

    Bundesweit ist die Suche nach Pflegepersonal ein riesiges Problem. Allein 2020 blieben im Schnitt rund 36.000 Stellen in der Pflege unbesetzt.

    Die Anzahl ausländischer Pflegekräfte ist in den letzten Jahren rasant gestiegen. 2013 waren es noch rund 74.000 Beschäftigte ohne deutschen Pass, 2020 mit 208.000 fast drei Mal so viele. Mehr als die Hälfte kommt dabei inzwischen aus Ländern außerhalb der EU wie Bosnien, Serbien oder den Philippinen, aber auch aus Lateinamerika. Die Anwerbung läuft zum Großteil über private Personalvermittlungsagenturen.

    Das staatliche Programm "Triple Win" zur Anwerbung von ausländischen Pflegekräften kommt ohne private Vermittler aus. Seit 2013 hat die Agentur für Arbeit mit der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit darüber bisher 4.425 Pflegekräfte nach Deutschland geholt - zu wenig bei über 36.000 offenen Stellen.

    ZDFheute: Wie bewerten Sie die Freiwilligkeit des Gütesiegels?
    Halletz: Das Gütesiegel wird unseriöse Agenturen wahrscheinlich nicht verhindern können, aber es wird die Agenturen stärken, die seriös arbeiten. Wir gehen davon aus, dass gerade Arbeitgeber*innen, die bisher noch nicht angeworben haben, dadurch ermutigt werden, anzuwerben. Denn dann gibt es ein Informationssystem, mit dem sich filtern lässt, mit wem sich eine Zusammenarbeit lohnt und wer transparent arbeitet.

    Das Gesetz zur Sicherung der Qualität der Gewinnung von Pflegekräften aus dem Ausland wurde am 11. Juni zusammen mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung vom Bundestag beschlossen. Die neue Reform zielt allgemein auf Verbesserungen der Arbeitssituation von Pflegefachkräften ab: Bessere Löhne und Personalschlüssel sowie zusätzliche Befugnisse.

    Laut Artikel 15b. soll ein freiwilliges Gütesiegel für private Personalvermittlungsunternehmen eingeführt werden. Es bescheinigt eine gute Vermittlungspraxis und ethische hohe Standards bei der Gewinnung von Pflegefachkräften im Ausland. Um dieses Siegel zu bekommen, müssen gewisse Anforderungen von den Vermittlungsagenturen eingehalten werden. Diese umfassen insbesondere Methoden zur Förderung der deutschen Sprache, zur Integration auf betrieblicher und sozialer Ebene, und zur Einarbeitung ausländischer Pflegefachkräfte.

    Mit Hilfe dieser Standards und Kriterien des Gütesiegels soll hierzulande ein Mindeststandard festgesetzt werden. Parallel dazu erarbeitet das Bundesgesundheitsministerium eine Förderrichtlinie, nach der Anreize zum Erwerb des Gütesiegels bestimmt werden sollen.

    Das Gesetz tritt zum 1. Juli in Kraft, Vermittlerfirmen können sich ab diesem Datum dafür bewerben.

    Das Interview führte Carolin Hentschel.