Beginn des Zweiten Weltkriegs: Bericht einer Zeitzeugin

    Interview

    Beginn des Zweiten Weltkriegs:"Der Krieg lebt im Menschen"

    01.09.2022 | 05:30
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    Heute vor 83 Jahren begann mit dem Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Teresa Stanek war damals fast 10 Jahre alt. Im Interview erzählt sie, wie sie das Grauen überlebt hat.

    Deutscher Angriff auf Polen am 1. September 1939
    Deutscher Angriff auf Polen am 1. September 1939
    Quelle: Imago

    ZDFheute: Im Jahr 1939 brach am 1. September der Zweite Weltkrieg aus. Wie bleibt der Tag in Ihrer Erinnerung?
    Teresa Stanek: Sehr lebendig, und so werde ich ihn bis zum Ende meines Lebens haben. Als mein Haus bombardiert wurde, wussten wir noch nicht, dass das Krieg war. Es wurde sogar gedacht, dass das eine Verwechslung war, dass das Übungen sind.

    Als ich die Flugzeuge hörte, hörte ich keine Luftabwehr. Wo ist die Luftabwehr? - Mein Schrei war einer, der sich auf die Straße trug. Es ist schwer, diesen Tag zu vergessen, wenn ein Mensch in einem Sommerkleid und Sandalen zurückbleibt. Ohne alles. Ohne Haus.

    ZDFheute: Ohne Kindheit?
    Stanek: Ich hatte eine Kindheit. Bis 1939, als mein Haus bombardiert wurde - als der Krieg ausbrach und sich herausstellte, dass Kinder aufhörten, Kinder zu sein.
    ZDFheute: Wie wurden Sie auf den Krieg vorbereitet?
    Stanek: Wie bedient man eine Schutzmaske? Wie leistet man erste Hilfe? Wie schützt man die Wohnung und wie stellt man sich in der Reihe mit Wassereimern an? Du darfst nicht mit jedem Menschen reden - diese Grundlagen fingen ab dem 01.09 an.

    Teresa Stane
    Quelle: ZDF

    .... wurde am 13.10.1929 in Kielce geboren und war zur Zeit der deutschen Besatzung Teil der Heimatarmee, in der sie Vermittlerin war. Gleichzeitig half sie jüdischen Menschen im Ghetto in Kielce. Im Zweiten Weltkrieg verlor sie ihre beiden Schwestern, die erschossen wurden. Heute ist sie Präsidentin des "Weltverbandes der Soldaten der Heimatarmee".

    In diesem Moment hat meine Generation der Zehn-, Elf-, Zwölf-jährigen schon ihre Kindheit verloren. Wir waren keine Kinder mehr, wir waren schon erwachsene Personen. Trotz Polizeistunde, trotz Hunger, trotz Kälte. Und trotz der Angst, die uns von morgens bis abends und von abends bis morgens begleitete, versuchten wir normal zu leben - und das hat uns gerettet.
    ZDFheute: Haben Sie so ein normales Bild für uns?
    Stanek: Es wurden sogenannte 'Prywatki' (Privatpartys, die Redaktion) organisiert. Man traf sich, man tanzte, man verliebte sich. Man änderte bis zu zehnmal das gleiche Kleid oder änderte Männerhemden auf Damenblusen ab. Und das war eine Freude. Wir wollten Frauen sein, wollten schöne Mädchen sein.
    Archiv: Wielun liegt in Trümmern, am 01.09.1939
    Archiv: Das deutsche Linienschiff "Schleswig- Holstein" beschießt am Morgen des 01.09.1939 die Westerplatte bei Danzig
    "Die Jahreschronik des Dritten Reichs (3) 1939 bis 1942: Krieg und Vernichtung": Adolf Hitler begründet den Angriff auf Polen in seiner Rede vor dem Reichstag 1939.
    Deutsche Truppen auf dem Vormarsch in Polen 1939
    Deutsche Soldaten reißen 1939 einen Schlagbaum an der deutsch-polnischen Grenze nieder
    Am 23. august 1939 unterzeichneten der Außenminister des Deutschen Reiches, Joachim von Ribbentrop (l), und der sowjetische Außenminister Wjatscheslaw Molotow (vorn) in Moskau den deutsch-russischen Nichtangriffspakt. Hinten neben Ribbentrop Josef Stalin, ganz rechts Friedrich Gaus, daneben U. Pavlov.
    Einmarsch der Wehrmacht in Polen
    Archiv: Kontrolle von Bewohnern des Warschauer Ghettos durch die Nazis
    "Der Zweite Weltkrieg: Der Überfall": Ein Mann sitzt in den Ruinen eines durch den Krieg zerstörten Hauses in einer polnischen Ortschaft. Im Vordergrund ist ein Wegweiser mit der Aufschrift "Zur Front" errichtet worden.
    Blick auf völlig zerstörte Häuser und Steine in Warschau, aufgeneommen am 13.10.1945

    Angriff auf Wielun

    Am Morgen des 1. September 1939 fliegt die deutsche Luftwaffe Angriffe auf die polnische Kleinstadt Wielun - und tötet mehr als tausend Menschen. Der Überfall markiert den Beginn des Zweiten Weltkriegs.

    Quelle: mauritius images


    ZDFheute: Die Bilder des Krieges waren alles andere als schön. Welche begleiten Sie bis heute?
    Stanek: Es fanden öffentliche Exekutionen statt. Ziel war die Abschreckung der polnischen Gesellschaft.

    Bei einer dieser Exekutionen war ich Zeugin. Als die Leute zum Erschießen aufgestellt wurden, war unter ihnen ein junger Kerl. Mit ihm hatte ich Augenkontakt bis zum letzten Moment. Er lebte in meinen Augen und ich lebte in seinen. Ich werde das nicht vergessen.

    Ob ich mich daran gewöhnen kann? Nein, er begleitet mich. Er lebt in mir.
    ZDFheute: Wie lebte man unter diesem Terror?
    Stanek: An alles kann sich ein Mensch gewöhnen. An Angst gewöhnt er sich auch. Auf die Straße zu gehen, war beängstigend, weil es Razzien gab. Das sage ich aus eigener Erfahrung.

    Mir wurde beigebracht, dass man den Deutschen nicht in die Augen schauen durfte. Ich schaute hinein. Ich bekam so einen Fußtritt ins Gesicht, dass ich mich auf dem Boden wiederfand. Für was?

    ZDFheute: Die polnische Regierung fordert Reparationszahlungen. Wie ist ihre Meinung dazu?
    Stanek: Das ist eine schwere Frage. Kann ich jetzt zurückgehen und sagen, dass mir zweimal das Haus zerstört wurde und ich ohne alles zurückgelassen wurde? Soll ich jetzt sagen, dass mir jemand etwas dafür zurückgeben soll? Zu spät, denke ich. Allerdings denke ich, dass wir vielleicht etwas bekommen sollten. Nur muss man die angemessene Zeit finden, die angemessene Form und angemessenes Verständnis. Das darf nicht zu einem Streit führen.
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    ZDFheute: Haben Sie eine Botschaft, die Sie den jungen Menschen weitergeben wollen?
    Stanek: Das Wichtigste ist, selbstständiges Denken zu lernen und dass ihr es nicht erlaubt, dass in euren Köpfen jemand mitmischt. Man muss Erfahrungen sammeln, lesen, Informationen konfrontieren und seine eigenen Schlüsse ziehen.
    ZDFheute: Haben wir Schlüsse aus dem Zweiten Weltkrieg gezogen?
    Stanek: Heute, und nicht nur heute, denke ich, dass die Leute aus dem Zweiten Weltkrieg keine Lehre gezogen haben.

    Wollen wir uns alle wieder schlagen? Warum, wofür? Der Krieg lebt im Menschen. In Erwachsenen vielleicht etwas anders, aber Kinder sind Opfer des Krieges. Dazu darf man es nicht kommen lassen.

    Das Interview führten Milena Drzewiecka und Melanie Herbig aus dem ZDF-Studio Warschau.

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