New York und London: Polio im Abwasser? Was das bedeutet
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New York und London:Polio im Abwasser? Was das bedeutet
von Katja Belousova
15.08.2022 | 19:49
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In London und New York wurden Polio-Viren im Abwasser nachgewiesen. Unüblich ist das nicht. Wie das Virus wahrscheinlich ins Abwasser kam und was jetzt empfohlen wird.
Abwasser-Aufbereitungsanlage in Newtown Creek, New York: In dem US-Bundesstaat wurden Polio-Viren im Abwasser nachgewiesen.
Quelle: John Minchillo/ap
Coronavirus, Affenpocken und jetzt auch noch Polio? Dieser Gedanke beschäftigt nicht wenige, seit es Meldungen über Polio-Viren im Abwasser von New York und London gibt. Ein Grund zur Sorge sollte das aber nicht sein. ZDFheute mit den wichtigsten Fragen und Antworten.
Was ist Polio?
Poliomyelitis beziehungsweise Polio ist der medizinische Begriff für Kinderlähmung. Dabei handelt es sich um eine ansteckende Infektionskrankheit, die in sehr seltenen Fällen zum Tod führen kann. Vor allem bei Kleinkindern kann Polio dauerhafte Lähmungen hervorrufen. Verbreitet wird das hoch ansteckende Virus oft über verunreinigtes Wasser. Eine Heilung gibt es bisher nicht, bezwungen wurde das Virus mit flächendeckenden Impfungen. Ein erster Lebendimpfstoff wurde in den 50er-Jahren gefunden. Inzwischen gilt die Infektionskrankheit in den meisten Weltregionen als ausgerottet.
Die effektivste Maßnahme zur Eindämmung der Zirkulation von Polio-Viren ist die Schließung von Impflücken. Dabei sollen 95-Prozent-Impfraten angestrebt werden.
Robert-Koch-Institut
Bei Polio wird zwischen Wildtypen und von Impfstoffen abgeleiteten Viren unterschieden. Polio-Wildviren treten immer wieder in Pakistan und Afghanistan auf, wurden dieses Jahr aber auch in Afrika nachgewiesen. Polio-Fälle in mehreren Ländern können zudem durch Viren aus Lebendimpfstoffen der einmaligen Schluckimpfung verursacht werden. In vielen Ländern, darunter auch in Deutschland, wird deshalb nur noch inaktiver Polio-Impfstoff verwendet.
Kinder in Pakistan werden per Schluckimpfung gegen Polio geimpft.
Quelle: epa
Wie können Polio-Erreger ins Abwasser gelangen?
Die Schluckimpfung gegen Polio schützt vollständig Geimpfte vor einer Infektion, kann aber über mit Impfviren kontaminierte Fäkalien ins Abwasser gelangen.
Virologin Ulrike Protzer von der Technischen Universität in München sieht das als wahrscheinlichste Erklärung für die Funde in New York und London. "Das kann über Menschen erfolgen, die vielleicht aus Regionen kommen, in den Polio wieder ausgebrochen ist und denen dort vor Kurzem noch eine Schluckimpfung verabreicht wurde."
Um in gefährdeten Regionen schnell gegen Polio vorgehen zu können, sei die Schluckimpfung etwa auf einem Zuckerstück oft die einfachste Lösung, weil sie nur einmal gegeben werden muss, so Protzer. Bei den modernen Totimpfstoffen brauche es hingegen drei Dosen mit mehreren Monaten Abstand für eine Grundimmunisierung.
Ulrike Protzer
Quelle: Privat
... ist Leiterin des Instituts für Virologie an der Technischen Universität München und des Helmholtz-Zentrums München. Sie ist Fachärztin für Innere Medizin sowie für Mikrobiologie, Virologie und Infektionsepidemiologie.
Der Nachweis von Polio-Viren in Abwasser sei durchaus üblich, schreibt das Robert-Koch-Institut auf Nachfrage.
Das trifft auch auf Länder zu, die ausschließlich den Totimpfstoff verwenden (z. B. Deutschland), der zwar vor einer Erkrankung schützt, aber eine Infektion und damit Virusausscheidung nicht sicher ausschließt.
Robert-Koch-Institut
Die Viren im Abwasser können also auch von Personen importiert und ausgeschieden werden, die mit einem Totimpfstoff geimpft wurden, sich aber in einem Polio-Gebiet aufgehalten haben.
Wie läuft die Polio-Impfung in Deutschland?
Die Impfung gegen Poliomyelitis ist Teil der Routine-Impfungen in Deutschland. Die Ständige Impfkommission empfiehlt die erste Impfung im Säuglingsalter von zwei Monaten, die zweite Dosis mit vier Monaten und einen dritten Piks mit frühestens elf Monaten. Zwischen zweiter und dritter Impfung sollten mindestens sechs Monate liegen. Mit drei Impfungen ist die Grundimmunisierung abgeschlossen. Verimpft wird mittlerweile ein inaktivierter Poliomyelitis-Impfstoff.
Das ist ein Totimpfstoff, der nicht mehr ausgeschieden werden kann.
Ulrike Protzer, Virologin
Als vollständig immunisiert gilt man, wenn man zehn Jahre nach Abschluss der Grundimmunisierung eine Auffrischung erhält.
Die Stiko empfiehlt bei Personen mit fehlender oder unvollständiger Immunisierung gegen Poliomyelitis, die jeweils fehlenden Impfstoffdosen zu verabreichen.
Ständige Impfkommission
Gibt es Anlass zur Sorge?
Das kontaminierte Abwasser kann zu Ansteckungen bei anderen Menschen führen. Die dabei auftretende Virus-Variante ist zwar schwächer als das Polio-Wildvirus, kann aber bei Ungeimpften immer noch schwere Krankheiten und Lähmungen verursachen. Betroffen sind dann vor allem kleine Kinder. Daher raten New York und London vor allem bei Kleinkindern zur Impfung.
Die gute Nachricht: In London wurden Stand 10. August trotz des Abwasserfunds keine neuen Infektionsfälle festgestellt. Gefährdet seien höchstwahrscheinlich Menschen mit fehlender oder unvollständiger Immunisierung, erklärte die Polio-Expertin Kathlene O'Reilly. Die Polio-Impfrate in der Stadt beträgt laut WHO etwa 87 Prozent.
In Deutschland bestehe wenig Grund zur Sorge, beruhigt Ulrike Protzer. "Jeder, der seine Kinder beim Kinderarzt standardmäßig hat impfen lassen, muss sich keine Gedanken machen", sagt sie. Und das treffe auf die allermeisten Fälle zu. Laut Robert-Koch-Institut beträgt die Impfquote - Stand 2021 - für die ersten drei Polioimpfungen bei Kindern seit Jahren konstant rund 90 Prozent.
Die Empfehlung der Stunde lautet also: Ruhe bewahren, sich erst einmal keine Sorgen machen und im Impfpass den Stand der Polio-Impfung kontrollieren.