Seit heute steht die 96-jährige Irmgard F. vor Gericht. Die Anklage wirft der ehemaligen Sekretärin eines KZ-Kommandanten Beihilfe zum Mord vor. Ein KZ-Überlebender erinnert sich.
Irmgard F., arbeitete von 1943 bis 1945 im Konzentrationslager Stutthof. Für den Lagerkommandanten soll sie als Stenotypistin Befehle und andere Dokumente abgetippt haben, darunter auch die Listen mit den Namen derer, die nach Auschwitz deportiert werden sollten.
Der Angeklagten wird vorgeworfen, von den Verbrechen im Lager gewusst und sie durch ihre Arbeit unterstützt zu haben. Ob sie sich schuldig gemacht hat, wird vor dem Landgericht Itzehoe verhandelt. Sie war zuvor nicht zum ersten Termin erschienen.
KZ Stutthof war für viele ein Durchgangslager nach Auschwitz
Im KZ Stutthof im heutigen Polen starben 65.000 Menschen. Sie wurden mit Gas oder einer Genickschussanlage ermordet oder kamen durch Krankheiten, Mangelernährung oder Verletzungen, die ihnen die SS-Schergen zufügten, zu Tode. Für Tausende weitere Gefangene war Stutthof ein Durchgangslager auf dem Weg nach Auschwitz. [Mehr zum Thema Nationalsozialismus und dessen menschenverachtende Ideologie.]
Abba Naor hat das Lager Stutthof erlebt und überlebt. 1944 brachten ihn die Nazis mit dem Schiff aus dem Ghetto in seiner litauischen Heimat in das Lager, gemeinsam mit seinen Eltern und dem jüngeren Bruder. Naor war damals 16.
Abba Naor hat das Lager der Nazis überlebt
Im Gespräch mit ZDFheute erzählt der heute 93-Jährige von den Grauen des Lagers. Die Gefangen hungerten, täglich erlitten sie körperliche Misshandlungen und lebten in ständiger Todesangst.
Der junge Abba Naor musste miterleben, wie er von seiner Familie separiert wurde. Seine Mutter Chana und sein kleiner Bruder wurden nach Auschwitz deportiert. Abgetrennt durch einen Zaun sah Abba Naor sie zum letzten Mal.
Naor überlebte zwei Nazi-Arbeitslager und den Todesmarsch
Weil Naor arbeitsfähig war, schaffte er es in eine der letzten Gruppen, die Stutthof verließen und in Arbeitslager gebracht wurden. Die Hoffnung, seine Familie vielleicht doch noch wiederzusehen, trieb ihn an. Nur seinen Vater traf er nach Ende des Krieges wieder.
Zwei weitere Arbeitslager stand Naor durch und den Todesmarsch, auf den die Nazis verbliebene KZ-Gefangene 1945 trieben, als die Alliierten vorrückten. [Hitlers Sklaven: Die Geschichte der NS-Zwangsarbeiter.]
Die Erfahrungen aus den Lagern begleiten Abba Naor noch heute.
Den Prozess gegen Irmgard F. lehnt Naor ab. Für ihn kommt das Verfahren Jahrzehnte zu spät. Anders als andere Stutthof-Überlebende hat er sich der Anklage nicht als Nebenkläger angeschlossen.
Naor: Zeitzeugengespräche in Schulen
Sein Weg der Aufarbeitung ist ein anderer. Mehrmals im Jahr reist er von Israel nach München und erzählt Schülerinnen und Schülern in Zeitzeugen-Gesprächen seine Lebensgeschichte.
Mehr Anklagen seit dem Urteil gegen SS-Wachmann Demjanjuk
Zu Anklagen und Verurteilungen von ehemaligen KZ-Gehilfen wie Wächtern oder anderem Hilfspersonal wegen Beihilfe zum Mord kommt es in Deutschland verstärkt seit 2011. Mit dem Urteil des Landgerichts München gegen den SS-Wachmann Demjanjuk änderte sich die Rechtsprechung.
2016 bestätigte der Bundesgerichtshof im Verfahren gegen Oskar Gröning, der in Auschwitz als Buchhalter arbeitete, die neue Linie: Auch wer nicht unmittelbar an Tötungen in Konzentrationslagern beteiligt war, kann sich durch die Arbeit im KZ wegen Beihilfe zum Mord schuldig gemacht haben, wenn erkennbar war, dass dort systematische Tötungen stattfanden.
Samuel Kirsch ist Rechtsreferendar in der ZDF-Redaktion Recht und Justiz.
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