Queeres Älterwerden - eine Leerstelle in der Pflege

    Interview

    Queeres Älterwerden:Regenbogenkompetenz: Leerstelle in der Pflege

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    Angebote für ältere Menschen sind oft heterosexuell geprägt. Das will die Fachstelle "Altern unterm Regenbogen" ändern. Sie leistet Pionierarbeit für ältere LSBTI* in Deutschland.

    Berlin: Eine Regenbogen-Fahne schmückt den Gemeinschaftsraum der Wohngemeinschaft für homosexuelle Senioren. Archivbild
    Wohngemeinschaften für homosexuelle Senioren wie hier in Berlin können sozialer Isolation entgegenwirken. (Archivbild)
    Quelle: Stephanie Pilick/dpa

    • Egal ob Pflege oder Seniorenarbeit: Verständnis und Empathie für die Belange von LSBTI* sind deutschlandweit meist noch eine Leerstelle.
    • Die Bedarfe der älteren LSBTI*-Community sind komplex und vielfältig.
    • Sichtbarkeit und Gesehenwerden als Problem: die Gruppe der älteren LSBTI* wächst demografisch.

    ZDFheute: Wie ist es um die Belange von älteren Menschen, die lesbisch, schwul, bisexuell, trans und inter sind, in der Pflege und Seniorenarbeit hierzulande bestellt?
    Inka Wilhelm: Grundsätzlich gilt: Angebote für ältere Menschen sind meist heterosexuell geprägt. Weder die offene Seniorenarbeit noch die stationäre und ambulante Pflege sowie der Gesundheits- und Pflegesektor insgesamt sind in der Regel eingestellt auf Menschen, die LSBTI* sind. So genannte "Regenbogenkompetenz", die mit Verständnis und Empathie die besonderen Belange von LSBTI* berücksichtigt, ist deutschlandweit meist noch eine Leerstelle.

    Stationäre Pflegeeinrichtungen oder ambulante Pflegedienste, die ältere LSBTI* versorgen? Fehlanzeige.

    Inka Wilhelm, Fachstelle "Altern unterm Regenbogen"

    Nicht, weil es keine LSBTI* unter ihren Bewohnerinnen und Bewohnern sowie Betreuten gibt, sondern weil sie schlichtweg nicht wissen, dass unter diesen auch LSBTI*-Personen sind. Aber sie sind bereits da – in der offenen Seniorenarbeit genauso wie in der stationären und ambulanten Pflege. Und sie werden mehr: Die Gruppe der älteren LSBTI* wächst demografisch.
     Zwei Frauen küssen sich, eine von ihnen hält eine Regenbogenflagge in der Hand.
    Noch immer werden viele LGBTQ-Menschen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung Opfer von Gewalt. In konservativen Ländern und in liberalen Demokratien kommt es oft zu Übergriffen. 13.08.2021 | 43:41 min
    ZDFheute: Welche besonderen Bedürfnisse haben LSBTI* im Alter?
    René Kirchhoff: Die Bedarfe der älteren LSBTI*-Community sind komplex und vielfältig. Da sind zum einen die Themen Vereinsamung und soziale Isolation, die ältere LSBTI* stärker betreffen als die Mehrheitsgesellschaft – auch weil Familien im herkömmlichen Sinne fehlen.

    Viele haben mit ihrer Ursprungsfamilie gebrochen, informelle Netzwerke aus Zugehörigen, Freundinnen und Freunden sind oftmals weniger stark belastbar.

    René Kirchhoff, Fachstelle "Altern unterm Regenbogen"

    Deshalb ist es wichtig, dass sich die Menschen untereinander vernetzen und gegenseitig stärken. Das beginnt bei der Pflegeberatung und geht über die Jazztanzgruppe bis hin zu eigenen queeren Wohngruppen. Da ist zum anderen das Thema Mehrfachdiskriminierung, das neben den Herausforderungen, die das Altern generell mit sich bringen kann, eine Rolle spielt.
    Man darf nicht vergessen: Es handelt sich um die Generation, die ihr Leben lang für Gleichstellung sexueller Orientierung und für geschlechtliche Vielfalt gekämpft hat, die nun in ein Alter kommt, in dem das Thema Pflege relevant wird. Viele LSBTI* haben im Laufe ihres Lebens Erfahrungen wie Ausgrenzung, Stigmatisierung, Kriminalisierung, Gewalt und manchmal auch mit staatlicher Verfolgung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung und geschlechtlichen Identität machen müssen.
    ZDFheute: Wie können diese Bedürfnisse, Lebens- und Sozialisationsbedingungen besser berücksichtigt werden?
    Bernd Plöger: Diese Erfahrungen lasten schwer auf den Menschen und diesen Ballast bringen sie mit. Man kann sich vorstellen, dass beispielsweise körpernahe Pflege von LSBTI* ein noch größeres Maß an Sensibilität notwendig macht, als es sie ohnehin bedarf und ein großes Wissen notwendig macht. Dafür braucht es Schulungen, um den Pflegekräften die besonderen Lebenslagen und biographischen Hintergründe aufzuzeigen und ein emotionales Verständnis zu erzeugen.

    Viele aus der LSBTI*-Community haben Angst, in der offenen Seniorenarbeit beziehungsweise in der Pflege erneut auf Menschen zu treffen, die sie diskriminieren.

    Bernd Plöger, Fachstelle "Altern unterm Regenbogen"

    Das Problem ist die Sichtbarkeit und das Gesehenwerden. Denn sehr vielen Pflegekräften ist es extrem wichtig, eine angemessene, individuell am Einzelnen orientierte Pflege zu machen, doch leider ist ihnen noch zu oft nicht bewusst, dass sie es mit LSBTI* mit ganz besonderen Bedürfnissen zu tun haben.
    René Kirchhoff, Dr. Inka Wilhelm und Bernd Plöger bilden seit Januar 2019 die Fachstelle "Altern unterm Regenbogen"
    René Kirchhoff, Dr. Inka Wilhelm und Bernd Plöger bilden seit Januar 2019 die Fachstelle "Altern unterm Regenbogen"
    Quelle: Fachstelle "Altern unterm Regenbogen"

    ZDFheute: Welche Werkzeuge braucht es in der Praxis ganz konkret, um Pflegepersonal zu befähigen, ein solches Klima des Respekts zu schaffen?
    Inka Wilhelm: Dem entgegentreten können Einrichtungen etwa, indem die Geschlechtsabfrage bei der Aufnahme aus mehr besteht als der Unterscheidung zwischen Mann und Frau und nicht davon ausgegangen wird, dass eine ältere Frau automatisch in einer heterosexuellen Beziehung gelebt und Kinder hat.
    Hinzu kommen Fragen wie: Umfasst eine Bibliothek in der Einrichtung auch LSBTI*-Themen? Wird einem die Möglichkeit gegeben, am Christopher Street Day teilzunehmen? Gibt es vielleicht sogar einen eigenen Stammtisch für schwule Bewohner? Letztendlich geht es um eines: Respekt, Wertschätzung und Empathie.
    Das Interview führte Michael Kniess.

    Die Fachstelle "Altern unterm Regenbogen" setzt sich ein für die Interessen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, trans und inter Personen ab 55 Jahren mit und ohne Behinderung, unabhängig von ihrer Nationalitäts-, Kultur- oder Religionszugehörigkeit sowie ihrer Hautfarbe und sozialen Herkunft. Ihre Teilhabe, Zugehörigkeit und Selbstbestimmung auch im Alter zu fördern, ist das grundlegende Ziel. Auch für Fachkräfte und Interessenvertretungen in der seniorenbezogenen Arbeit stehen Dr. Inka Wilhelm von der frauenberatungsstelle düsseldorf e.V., René Kirchhoff von der Aidshilfe Düsseldorf e.V. und Bernd Plöger vom AWO Kreisverband Düsseldorf e.V. beratend zur Seite. Weitere Infos gibt es hier.

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