Gefangenes Mädchen in Attendorn: Wo war das Jugendamt?

    Attendorn im Sauerland:Gefangenes Mädchen: Wo war das Jugendamt?

    Ralph Goldmann Avatar
    von Ralph Goldmann
    |

    Ein Mädchen ist jahrelang in einem Haus im sauerländischen Attendorn eingesperrt gewesen. Interne Unterlagen zeigen: Hinweise zum Fall wurden offenbar nicht konsequent verfolgt.

    Blick auf das Haus im sauerländischen Attendorn, in dem ein achtjähriges Mädchen fast sein gesamtes Leben lang festgehalten worden sein soll.
    In diesem Haus in Attendorn wurde das Mädchen offenbar jahrelang festgehalten.
    Quelle: dpa

    Es ist der 23. September 2022, als das Familiengericht Olpe den Eltern eines achtjährigen Mädchens teilweise das Sorgerecht entzieht. Noch am selben Tag durchsucht die Polizei ein Haus in Attendorn und stößt auf das Kind, das bis dahin offenbar noch nie das Haus verlassen hat.
    Nach ZDF-Informationen fanden die Beamten das Mädchen in äußerlich gutem Zustand vor, allerdings zeigte es beim Treppensteigen motorische Unsicherheiten. Hinweise auf Missbrauch lagen nicht vor. Die Achtjährige wurde in einer Pflegefamilie untergebracht.

    Jugendamt und Polizei stehen in der Kritik

    Es war das vorläufige Ende einer Geschichte, die kein gutes Licht auf die Arbeit des örtlichen Jugendamtes wirft. Hinweisen auf den Verbleib des Mädchens wurde offenbar seit mehreren Jahren nicht konsequent genug nachgegangen. Auch die Polizei steht in der Kritik. Denn aus den Ermittlungsakten geht hervor, dass das Jugendamt bereits seit Sommer 2015 mit den Eltern in Kontakt war.
    Der Vater hatte einen Antrag auf gemeinsames Sorgerecht gestellt, weil die Mutter mit der Tochter nach Italien ziehen wollte und laut Melderegister mit dem Kind in Attendorn bereits abgemeldet war. Dem Vater kamen aber Zweifel, weil der Unterhalt weiterhin über ein deutsches Konto lief und die Mutter mehrfach beim Einkaufen in Deutschland gesehen worden war.

    Bereits 2015 forschte das Jugendamt zum Fall

    So stand schon Ende Oktober 2015 das Jugendamt unangekündigt vor der Tür des Hauses, fand aber keine Hinweise auf den Verbleib des Kindes. Anfang Dezember gab das Gericht dem Antrag des Vaters auf Ausübung des gemeinsamen Sorgerechts statt und schickte den entsprechenden Beschluss an die italienische Adresse der Mutter, wo er laut Rückschein auch entgegengenommen wurde.
    Erst fünf Jahre später, im Oktober 2020, klingeln beim Jugendamt wieder die Alarmglocken, als ein anonymes Schreiben eingeht. Es ist nach ZDF-Informationen aus ausgeschnittenen Buchstaben zusammengeklebt und aus der Sicht eines Kindes formuliert. Seit 2015 habe eine jetzt Achtjährige das Haus der Großeltern nicht verlassen dürfen, heißt es darin.

    Mutter täuschte Umzug mit Tochter nach Italien wohl nur vor

    Schon einen Tag später fordert die damalige Sachbearbeiterin Informationen zum Aufenthalt von Mutter und Kind bei der Krankenkasse an. Die antwortet drei Wochen später: Die Mutter sei in Deutschland versichert und zahle regelmäßig Beiträge.
    Weitere Nachforschungen bei Kinderärzten und beim zuständigen Kreis Olpe seien erfolglos geblieben, heißt es in den Unterlagen. Der Fall verläuft im Sande, obwohl das Jugendamt Mitte November 2020 einen zweiten Hinweis bekommt.

    Attendorn im Sauerland
    :Eingesperrtes Kind - Jugendamt hatte Hinweise

    Im Fall des offenbar jahrelang eingesperrten Mädchens soll das Jugendamt anonyme Hinweise erhalten haben. Die Behörde sei dem nachgegangen, habe aber keine Anhaltspunkte gefunden.
    Nordrhein-Westfalen, Attendorn: "Hansestadt Attendorn" steht auf einer Fußgängerbrücke.

    Polizei sah keinen Anfangsverdacht einer Straftat

    Es dauert ein Jahr bis zum nächsten anonymen Hinweis. Diesen nimmt das Jugendamt zum Anlass, das fragliche Haus der Großeltern, in der die Mutter mit dem Kind leben soll, aufzusuchen. Die Großeltern aber lassen die Mitarbeiter nicht ins Haus. Tochter und Enkeltochter würden hier nicht mehr wohnen.
    Daraufhin informiert das Jugendamt die Polizei. Die aber sieht keinen Anfangsverdacht einer Straftat oder die Möglichkeit einer Hausdurchsuchung. Der Vater meldete sich auf Nachfragen des Jugendamtes nicht mehr.

    Anfrage an italienische Behörden erst sieben Jahre nach erstem Hinweis

    Es vergeht noch einmal fast ein Jahr, bis das Jugendamt weitere Hinweise, diesmal nicht mehr anonym, bekommt. Es ist Sommer 2022, also sieben Jahre, nachdem sich der Kindsvater mit einem ersten Verdacht an die Behörde gewandt hatte.
    Jetzt erst fragt das Jugendamt in Italien nach und erfährt Mitte September, dass die Frau und das Mädchen nie in Italien gemeldet waren. Einen Tag später informiert das Jugendamt wieder die Polizei. Die handelt jetzt. Zehn Tage später wird das Kind befreit.

    Jugendamt: Keine rechtliche Handhabe für Hausbetretung

    Der Fachbereichsleiter des Jugendamtes, Michael Färber, hatte bereits nach Bekanntwerden Dokumentationsdefizite eingeräumt und gesagt, man habe keine rechtliche Möglichkeit gehabt, das Haus zu betreten - das sei auch die damalige Einschätzung der Polizei gewesen.

    Wir haben keine Anzeichen gefunden, die bestätigt hätten, dass das Kind und seine Mutter bei den Großeltern in Attendorn leben.

    Michael Färber, Jugendamt Olpe

    Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Mutter, Großeltern und Jugendamt

    Laut Staatsanwaltschaft Siegen besteht gegen Beschäftigte des Jugendamtes jetzt aber der "Anfangsverdacht der Freiheitsberaubung und Körperverletzung im Amt durch Unterlassen".
    Gegen die Mutter und die Großeltern des Kindes läuft ein Ermittlungsverfahren. Am heutigem Donnerstag befassen sich sowohl der Innenausschuss als auch der Ausschuss für Familie, Kinder und Jugend im Düsseldorfer Landtag mit dem Fall.

    Achtjährige nie vor der Tür
    :Kind wohl jahrelang im Haus versteckt

    Kita, Schule oder Freunde? Nichts davon. Im Sauerland ist eine Achtjährige fast ihr ganzes Leben lang im Haus versteckt worden. Mutter und Großeltern ließen sie nicht vor die Tür.
    Attendorn, Kreis Olpe: Ortsschild. Archivbild