Zwischen Landesverrat und Lüge: 60 Jahre "Spiegel"-Affäre

    Zwischen Landesverrat und Lüge:60 Jahre "Spiegel"-Affäre

    von Martin Niessen
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    Der Polizeieinsatz beim Magazin "Spiegel" wegen vermeintlichen Landesverrats führt zu einer Regierungskrise. Eine Affäre, die die noch junge Bundesrepublik verändert.

    "Skandal! Der Spiegel im Visier (1962)": Die Ausgabe, die die "Spiegel"-Affäre auslöste.
    Ein Insider-Bericht über die Bundeswehr führt zu Verhaftungen und Durchsuchungen in der Redaktion des Magazins "Der Spiegel". Der vermutete Landesverrat kann nie nachgewiesen werden.
    Quelle: ZDF

    Freitag, 26. Oktober 1962. Staatsschutz und Polizei stürmen die Redaktion des "Spiegel" in Hamburg, beschlagnahmen Dokumente, versiegeln Büros, nehmen Redakteure fest. Herausgeber Rudolf Augstein stellt sich am Tag darauf und kommt ebenfalls in Untersuchungshaft.

    Anlass der Affäre: Ein Artikel über Mängel bei der Bundeswehr

    Rudolf Herbers arbeitet damals als Journalist für eine Frauenzeitschrift, deren Büros direkt neben denen des "Spiegel" liegen. Der heute 87-Jährige und seine Kollegen sind empört ob des Polizeieinsatzes:

    Alle standen auf dem Flur: hast Du schon gehört? Stell Dir mal vor, die Polizei beim "Spiegel"! Da gab es niemanden, der meinte, der "Spiegel" sei wegen Spesenbetrug oder so etwas hochgenommen worden. Alle waren sich sofort einig: das ist politisch!

    Rudolf Herbers, Journalist

    Anlass ist der zwei Wochen zuvor erschienene Artikel "Bedingt abwehrbereit" über ein Nato-Manöver, das eklatante Mängel bei der Bundeswehr offenbart. Verteidigungsminister Franz Josef Strauß (CSU), mit dem "Spiegel" schon länger im Clinch, drängt die Bundesanwaltschaft zu Ermittlungen wegen des Verrats von Staatsgeheimnissen.
    Archiv: Hans-Jochen Vogel am 09.12.2016 in Stuttgart
    Mit der Durchsuchung der Redaktionsräume des Nachrichtenmagazins in Hamburg und Bonn wegen des Verdachts des Landesverrats begann vor genau 55 Jahren die "Spiegel-Affäre". Der frühere SPD-Vorsitzende Hans-Jochen Vogel erinnert sich. 26.10.2017 | 6:12 min

    Adenauer: "Abgrund von Landesverrat"

    Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) stellt sich hinter seinen Minister, spricht Anfang November von einem "Abgrund von Landesverrat". Im Bundestag leugnet Strauß, die Festnahme von Conrad Ahlers, dem Autor des Artikels, in Spanien veranlasst zu haben. Eine Lüge, wie sich herausstellt. Die "Spiegel"-Affäre wird zur Regierungskrise. Strauß will an seinem Amt festhalten, die fünf FDP-Minister der schwarz-gelben Koalition treten nach dem Motto "entweder er oder wir" zurück.
    Auch auf den Straßen im bieder-braven Nachkriegsdeutschland regt sich Widerstand. In Hamburg und anderen Städten demonstrieren Zehntausende mit Slogans wie "Spiegel tot, Freiheit tot" für die Pressefreiheit. Der offensichtliche Versuch, das Magazin mundtot zu machen, scheitert nicht zuletzt an der Solidarität anderer Redaktionen, auch der von Rudolf Herbers. Sie stellen den ausgesperrten "Spiegel"-Journalisten Büros, Schreibmaschinen, Telefone zur Verfügung.
     

    In diesen Aufbaujahren der Bundesrepublik hat man das auch als persönlichen Angriff empfunden. Man war verfassungsgemäß in einer Demokratie, hat sich da engagiert, dort gelebt, gearbeitet. Und dann kommen da Leute und wollen das kaputt machen.

    Rudolf Herbers , Journalist

    Für Strauß wird die Affäre zum Bumerang, der Druck zu groß. Ende November tritt er zurück.
    Rudolf Augstein (l), Archivbild
    Rudolf Augstein (l), nach seiner Entlassung aus der Untersuchungshaft 1963
    Quelle: Fritz Fischer/dpa

    Ehrenbürger in Handschellen

    Schon in den Tagen zuvor waren die Redaktionsräume des "Spiegel" wieder freigegeben, die Redakteure aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Bis auf Herausgeber Augstein, der noch bis Februar 1963 einsitzt. Zwei Jahre später lehnt der Bundesgerichtshof die Eröffnung des Hauptverfahrens wegen Landesverrats gegen ihn ab.
    Seine Unbeugsamkeit begründet Augsteins Legendenstatus unter Deutschlands Medienmachern. Womit der 2002 verstorbene Verleger gerne kokettiert:
     

    Ich bin wohl der einzige Ehrenbürger dieser Stadt, der echte Handschellen getragen hat.

    Rudolf Augstein, 1994

    Die aktuelle Ausgabe des Nachrichtenmagazins Der Spiegel, aufgenommen am 02.01.2017 in Hamburg
    "Der Spiegel" feierte 2017 den 70 Geburtstag. Seine Enthüllungen brachten Politiker ins Wanken oder gar zu Fall - bald schon galt das Nachrichtenmagazin als "Sturmgeschütz der Demokratie". Ein Rückblick.04.01.2017 | 1:23 min

    Pressefreiheit siegte

    Am Ende der Affäre steht ein Sieg für die Pressefreiheit. Und den "Spiegel". Das Magazin gilt fortan auch international als "Sturmgeschütz der Demokratie". Für Rudolf Herbers aber gibt es einen noch viel wichtigeren Sieger:
     

    Gewinner war der neue demokratische Staat. Und Verlierer waren die, die den neuen demokratischen Staat nach den Regeln des alten fortführen wollten. Das war ganz eindeutig.

    Rudolf Herbers , Journalist

    Dass Freiheit, auch Pressefreiheit, nicht selbstverständlich ist, sondern erkämpft werden muss, ist sechzig Jahre später vielleicht aktueller denn je.

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