AKW in Ukraine: Messung atomarer Strahlungen rund um die Uhr
Interview
Ukrainisches AKW Saporischschja:Wie groß das Risiko für Deutschland ist
11.08.2022 | 12:21
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Auf die kritische Lage am ukrainischen AKW Saporischschja blickt Florian Gering vom Bundesamt für Strahlenschutz gerade sehr genau. Das Risiko für Deutschland sei aber gering.
Das ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja steht in umkämpftem Gebiet.
Quelle: Imago
ZDFheute: Das ukrainische Kernkraftwerk Saporischschja ist zuletzt mehrfach beschossen worden. Wie sehen Sie die aktuelle Situation?
Dr. Florian Gering: Was uns besonders Sorgen macht, ist, dass Kernkraftwerke nicht darauf ausgelegt sind, in kriegerische Handlungen verwickelt zu werden. Das gab es auch weltweit noch nie.
Es ist bisher immer internationaler Konsens gewesen, Technologien wie etwa Kernkraftwerke aus kriegerischen Auseinandersetzungen herauszuhalten, weil keiner der Beteiligten sicher sein kann, was er damit auslöst.
ZDFheute: Wie kommen Sie normalerweise an Informationen über die Lage vor Ort? Und wie geht das im Moment?
Gering: Die üblichen Informationsquellen, die wir nutzen, sind vor allem Daten, die aufgrund internationaler Abkommen weltweit ausgetauscht werden. Das sind sowohl Messdaten als auch alle relevanten Meldungen von Behörden oder Betreibern. Hier gibt es seit Beginn des Krieges einen intensiven Austausch.
Quelle: Bundesamt für Strahlenschutz
... ist Leiter der Abteilung Radiologischer Notfallschutz im Bundesamt für Strahlenschutz (BfS). Die Abteilung beschäftigt sich vor allem mit Fragen rund um Unfälle, bei denen Radioaktivität freigesetzt wird. Sie betreibt dazu in Deutschland ein umfassendes Messnetz.
Für die Überwachung sind zudem eine Vielzahl von Bürgerdaten hinzugekommen, also beispielsweise von NGOs (Nicht-Regierungs-Organisationen; Anm. der Red.). Die nehmen rund um die Uhr Radioaktivitätsmessungen vor und machen sie im Internet verfügbar.
In der Summe haben wir über 500 Messstationen in der Ukraine, die wir trotz des Kriegszustands täglich auswerten können.
Dr. Florian Gering, BfS
ZDFheute: Heißt das, es wird im Moment sogar noch intensiver beobachtet als in Friedenszeiten?
Gering: Ja, in der Tat. Unsere Informationslage ist besser als es im Routinebetrieb auch in anderen Ländern der Fall ist.
ZDFheute: Falls es zu einer massiveren Freisetzung von Radioaktivität in Saporischschja kommen sollte: Mit welchen Auswirkungen auf Deutschland rechnen Sie?
Gering: Wir haben bisher keinerlei Anzeichen, die auf eine Freisetzung von radioaktiven Stoffen hinweisen.
ZDFheute: Was aber könnten im schlimmsten Fall die Auswirkungen für Deutschland sein?
Gering: Wir haben das schon vor einigen Jahren im Detail untersucht, und zwar genau für das Kernkraftwerk Saporischschja. Daraus haben wir die Erkenntnis gewonnen, dass glücklicherweise nur in 17 Prozent aller Wetterlagen überhaupt kontaminierte Luft nach Deutschland gelangen könnte.
In der Mehrzahl der Fälle würde der Wind gen Osten wehen und damit eher in Richtung Russland.
Dr. Florian Gering, BfS
Das heißt, das Risiko ist relativ gering. Natürlich kann es aber auch passieren, dass bei einer Freisetzung der Wind so steht, dass kontaminierte Luft nach Deutschland käme.
ZDFheute: Welche Notfallmaßnahmen müssten in dem Fall ergriffen werden?
Gering: Diese Fälle haben wir jetzt zu Beginn der kriegerischen Handlungen nochmal im Detail untersucht – auch Worst-Case-Annahmen, die von einer Freisetzung in der Größenordnung irgendwo zwischen Fukushima und Tschernobyl ausgehen. In allen Fällen wären in Deutschland Maßnahmen des Katastrophenschutzes, also Evakuierung oder Einnahme von Jodtabletten, nicht notwendig gewesen.
Was allerdings erforderlich gewesen wäre, wären Maßnahmen im Bereich der Landwirtschaft. Das heißt: Einige Produkte wären so stark belastet gewesen, dass sie nicht mehr auf den Markt hätten gebracht werden dürfen.
ZDFheute: Welche Möglichkeiten haben Sie, die Strahlenbelastung hier in Deutschland zu erkennen und zu messen?
Gering: Die Erkennung beginnt schon vor Ort. Rund um das Kraftwerk Saporischschja sind es allein 15 Messstationen, die wir sehen. Wir würden dann in der Folge die Ausbreitung in der Ukraine verfolgen können.
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Und europaweit gibt es circa viereinhalb tausend Messstationen, die wir immer überwachen. So können wir immer verfolgen, wohin sich die Wolke ausbreitet.
Neben diesen messtechnischen Verfahren würden wir auch Prognosen mit dem aktuellen Wetter erstellen. Und wenn die Luftmassen Deutschland erreichen, würden wir unser sehr aufwendiges Messnetz zum Einsatz bringen.
Wir haben über 1.700 Stationen und könnten sehr schnell sehr genau sagen, welche Gebiete wie stark betroffen wären.
Dr. Florian Gering, BfS
ZDFheute: Viele Menschen hier haben dennoch Angst, besorgen sich zum Beispiel Jodtabletten oder nehmen sie sogar vorsorglich ein. Eine gute Idee?
Gering: Das ist in unseren Augen überhaupt keine gute Idee. Wir können uns derzeit keine Situation vorstellen, in der es bei so einem weit entfernten Unfall in Deutschland Bedarf für die Einnahme von Jodtabletten gäbe.
Die gesundheitlichen Nebenwirkungen durch eine Einnahme von Jodtabletten würden daher definitiv das größere Risiko darstellen. Deswegen warnen wir explizit davor, Jodtabletten einzunehmen, ohne dass es dazu eine Aufforderung gibt.
Das Interview führte Mark Hugo aus der ZDF-Umweltredaktion
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