Kunst in Paris ist mehr als die Mona Lisa im Louvre. In den Seitenstraßen der Stadt nutzen Künstler wie Jef Aérosol, Obey und Banksy Häuserwände als Leinwand.
ZDFheute: Geschlossene Museen und ein enger Bewegungsradius machen es derzeit schwer, Kunst zu erleben. Öffnet diese Begrenzung den Blick für Street Art?
Jef Aérosol: Wenn man sich eine Stunde lang nur in seiner nächsten Umgebung bewegen darf, entdeckt man manchmal Dinge, die man sonst nicht sieht. Wer das Glück oder Unglück hat, in einer großen Stadt mit all dem dazugehörenden Stress zu leben, wird sich in der ruhigeren Corona-Zeit eher die Zeit nehmen, an einer bemalten Wand stehen zu bleiben und bewusster wahrzunehmen, was er sieht.
ZDFheute: Den meisten fällt als erstes die Mona Lisa im Louvre ein, wenn sie an Kunst in Paris denken. Paris und Street Art, passt das zusammen?
Aérosol: Viele Menschen besuchen keine Museen, weil sie denken, es fehlt ihnen hierfür an Wissen und Kultur. Sie glauben, Kunst sei einer gebildeten Elite vorbehalten. Menschen, die meine Bilder auf Häuserwänden sehen und mir sagen: „Ich weiß überhaupt nichts über Kunst“, denen antworte ich: „Es ist unmöglich, nichts über Kunst zu wissen.“ Der beste Beweis ist, dass sie sensibel sind für das, was Sie sehen. Manch einen animiert die Kunst auf der Straße dann doch ins Museum zu gehen.
ZDFheute: Massenhaft als Abzug verkaufte Werke wie „Napoleon“ von Banksy sind in Vierteln von Paris zu finden, wo die Menschen vorbeigehen, ohne einen Blick drauf zu werfen. Schmerzt Sie das als Künstler?
Aérosol: Nein, das schmerzt mich nicht, im Gegenteil. Für die Kunst ist es ein Triumph zum Alltag der Menschen zu gehören, die nicht einmal stehen bleiben, um sie anzuschauen, da sie normal geworden ist.
ZDFheute: Wie politisch ist Street Art im heutigen Paris angesichts von Corona, Terrorismus und Massenprotesten in der Stadt?
Aérosol: Kunst auf der Straße ist schon an sich ein politischer Akt. In Ländern wie China oder Syrien riskieren Künstler ihre Freiheit, wenn sie auf diese Weise eine Botschaft platzieren. Das hat dann natürlich eine andere Dimension als ein Pochoir (Anm.: Sprühtechnik, die in Paris groß geworden ist) in einem demokratischen Land.
ZDFheute: Was sind die Botschaften?
Aérosol: Manchmal sind die Botschaften ein bisschen „fake“. Einige junge Künstler arbeiten auf der Straße, weil sie so schnell berühmt werden können. Soziale Medien, die Bilder weltweit schnell transportieren, machen das möglich.
Um auf Instagram gut anzukommen, sieht man an den Wänden politische Botschaften im Postkarten-Stil. Gut gemacht, aber dann doch platt: Krieg ist schlecht, Frieden ist gut, vive l’amour.
ZDFheute: Kunst auf der Straße ist verletzlicher als Kunst in Museen. Der Pariser „Marianne“ von Obey wurden rote Tränen ins Gesicht gemalt, einige Werke werden übermalt. Was geht in Ihnen vor, wenn Sie das hören?
Aérosol: Diese Aktion war kein Vandalismus, das Werk wurde nicht zerstört. Auch ein großes Werk darf sich ändern und gehört nicht hinter Plexiglas.
Nachfolgenden Generationen kann man mit Bildern und Videos zeigen, was zu sehen war. Man soll diese Kunst aber nicht beschützen, sie muss atmen.
Manche mögen Graffiti und sagen, ohne die bunten Wandbilder wären unsere Städte ganz schön grau. Andere ärgern sich über die farbigen Nachrichten der Sprayer.
ZDFheute: Wo ziehen Sie bei Street Art die Grenze zwischen Kunst und Kitsch?
Aérosol: Das ist etwas komplizierter. Ich arbeite nicht viel mit Farben. Nur sehr wenige setzen Farbe gelungen ein, das rutscht schnell ins Kitschige. Immer häufiger ist an den Wänden Dekoratives zu sehen. Genau wie in der Musik und in der Architektur entsteht so eine gewisse Austauschbarkeit. Diese Art Kunst will Diskussionen vermeiden.
Auch aus den sozialen Netzwerken sind Kontroversen verschwunden. Stimmt man nicht überein, ist das sofort ein Kampf. In der Politik ist es das Gleiche. Ich finde das schade. Es findet eine Nivellierung statt, auch in der Kunst.
Die Fragen stellte Madeleine Nissen.
Unsere Galerie gibt einen Überblick über die Pariser Straßenkunst-Szene.