Er ist Schrottplatz und Heimstadt in einem: Der Tel Aviver Busbahnhof galt einmal als Vorzeige-Projekt, nun soll er verschwinden. Nachtrauern werden ihm vor allem seine Bewohner.
Kinder haben hier wohl nie gespielt. Man fragt sich: Wie sind die Waggons eines alten Karussells in den unterirdischen Atomschutzbunker gelangt? Der Keller des zentralen Busbahnhofs wurde nie für Ernstfälle genutzt, Menschen verirren sich nur selten her.
Es ist still, man hört nur ein leises Fiepen. In dem Zwischenraum zum darüber liegenden ersten Stockwerk haben sich Fledermäuse eingenistet.
Der Busbahnhof ist wie ein Labyrinth
"Nachts ist es hier unheimlich", sagt Amitai Fain und grinst - als wäre das nicht schon tagsüber so. Seit elf Jahren organisiert er Touren durch Tel Avivs zentralen Busbahnhof. Wer das Gebäude betritt, hat das Gefühl, in ein Labyrinth einzutreten und sofort die Orientierung zu verlieren. Die Gänge scheinen endlos lang und verwinkelt, die Stockwerke sind unterschiedlich hoch und der Boden an manchen Stellen seitlich abgeschrägt.
Die wenigen verstaubten Fenster lassen schon lange kein Sonnenlicht mehr hinein. Laut Amitai soll der Bau an ein Schiff erinnern. "Alles ist extrem gut durchdacht", erzählt er seiner Besuchergruppe, die bis jetzt nur Chaos erkennen kann. "Wenn der Mensch sich unwohl fühlt, geht er einkaufen!" Das mit dem Unbehagen hat geklappt - den Bahnhof als Shoppingcenter zu vermarkten dafür eher weniger.
Mitten im Weißen Elefanten dampft echte philippinische Hausmannskost
Stattdessen haben sich in dem Gebäude Communities von Einwanderern angesiedelt, die im aufstrebenden Tel Aviv woanders keinen Platz fanden. Im vierten Stock reihen sich Läden mit philippinischen Produkten aneinander. Hinter den Pappwänden eines improvisierten asiatischen Supermarkts hat Lilli ihren Stand aufgebaut. Auf dem Plastiktisch vor ihr stehen ein Dutzend Kochtöpfe.
Darin dampft echte philippinische Hausmannskost: Palabok-Nudeln, Adob-Schweinefleisch und Bilobilo, ein warmes Dessert aus der Tabioka-Wurzel. Seit zehn Jahren öffnet sie ihr kleines Restaurant jeden Freitagmittag. Wie zehntausende andere Philippiner ist Lilli als Pflegekraft nach Israel gekommen und verdient sich mit dem Essen etwas Geld dazu. "Lilli kocht wie zu Hause", sagen ihre Stammkunden. Für sie und viele andere philippinische Arbeiter ist der Busbahnhof eine Art zweite Heimat.
Ein Muster-Projekt ohne Brandschutzmaßnahmen
Die Stadtverwaltung dagegen sieht in dem Gebäude mittlerweile einen baulichen Schandfleck und ein Sicherheitsrisiko noch dazu: Es gibt keine Brandschutzmaßnahmen. 1993 wurde der Bahnhof als zweitgrößter der Welt fertiggestellt und sollte als Musterbeispiel für die Mischung aus Personennahverkehr und Freizeitangeboten dienen. Die Ladenflächen wurden an private Eigentümer und ein Holding-Unternehmen verkauft, große Teile des siebenstöckigen Gebäudes standen aber immer leer.
Der "weiße Elefant", wie der Betonklotz von Tel Avivern auch genannt wird, zieht Obdachlose und Kriminelle an. Anfang Dezember hätte der Bahnhof geräumt werden sollen. An seiner Stelle sollen einmal moderne Wohnanlagen entstehen. Passiert ist bisher nichts.
Zunehmende Verwahrlosung
Wie es weitergeht, kann selbst die Stadtverwaltung nicht sagen. Währenddessen wird der Bahnhof seit einigen Wochen an vielen Stellen nicht mehr gereinigt und verwahrlost zunehmend. Lilli beschäftigen die ständigen Gerüchte um die Schließung. Aber sie reagiert trotzig: "Zur Not verkaufe ich mein Essen eben auf der Straße!"
Ein Stockwerk höher: In seiner Bibliothek "Yung Yiddish" lagert Mendy Cahan 80.000 jiddische Bücher und Zeitschriften. Viele davon sind mehr als 100 Jahre alt, darunter sozialistische Publikationen, Romane und Kinderbücher. Jiddisch war die Alltagssprache osteuropäischer Juden, in Israel wurde sie schnell vom modernen Ivrit verdrängt. Alle zehn Minuten wackeln Mendys Regale, als gebe es ein Erdbeben.
Dann fährt im sechsten Geschoss gerade ein Bus ab. Er hat sich an den Lärm gewöhnt: "Dieser Bahnhof ist wie ein Hafen", sagt er.
Wie es langfristig weitergeht weiß er nicht: "Ich hoffe, dass die Verantwortlichen verstehen, dass dieser Ort etwas Besonderes ist." Eine andere Möglichkeit als Abwarten bleibt ihm und den anderen im weißen Elefanten nicht.
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