77 Jahre nach Kriegsende werden geheime Arrestzellen in der ehemaligen SS-Kommandantur von Theresienstadt entdeckt. Mit aufwühlenden Botschaften eingesperrter Ghetto-Häftlinge.
Anfang Januar 2022 besorgt sich Lukas Lev den Schlüssel für den Keller der ehemaligen SS-Zentrale von Theresienstadt. In dem prächtigen früheren Bankgebäude am zentralen Platz von Terezin (Theresienstadt) macht der tschechische Guide eine sensationelle Entdeckung. Im dunklen Keller stößt er statt verlassener Tresorräume auf sieben Arrestzellen, die allesamt im Originalzustand erhalten sind.
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An den Türrahmen befinden sich Botschaften. Bilder, Namen und viele verschiedene Strichlisten. Hier ritzten Ghetto-Gefangene zwischen 1943 und 1945 ihre Nachrichten und Hilferufe ins Holz.
Lukas Lev entdeckt ein Herz mit der Liebesbotschaft: "Ein Tag ohne Dich ist wie eine Ewigkeit." Ein anderer hat die Prager Karlsbrücke gezeichnet, ein weiterer den Schriftzug Vanoce, auf deutsch Weihnachten, 1943 verewigt. Deutlich zu erkennen ist ein deutsches "Gott mit uns" oder der Davidstern. Neben vielen unbekannten Initialen findet Lev in Zelle Nummer 6 den Namen "Jacob Edelstein".
Der "Judenälteste" musste den Nazis Bericht erstatten
Edelstein war der "Judenälteste von Theresienstadt". Er hatte die undankbare Aufgabe, das Ghetto mit insgesamt 140.000 Juden aus ganz Europa zu leiten. Edelstein rettete 1943 zahlreiche Leidensgenossen vor der Deportation nach Auschwitz. Er manipulierte die täglich bei der SS anzugebende Zahl der Gefangenen. Das wurde ihm zum Verhängnis. Der Lagerälteste wurde denunziert.
Mitte Dezember 1943 wurde Edelstein mit Ehefrau Miriam und Sohn Ariel nach Auschwitz deportiert. Er musste zusehen, wie im Juni 1944 zuerst Frau und Sohn erschossen wurden, bis er an der Erschießungswand vor Block 11 selbst im Kugelhagel starb.
Die SS-Kammern liefern wichtige Beweise für Nazi-Verbrechen
Lukas Lev dokumentiert seine Entdeckungen. "Ich möchte den vielen unbekannten Menschen einen Namen, ein Gesicht und eine Geschichte geben". Die monatelange Suche nach Angehörigen führt nach Israel zu einem Neffen von Jakob Edelstein. Der 70-jährige Uri Oliner sagt in Tel Aviv: "Ein ganz wichtiger Fund. Unsere Eltern haben uns wenig erzählt – aus Scham und einfach um Schrecken und Terror zu vergessen."
Die Inschriften sind wichtige Beweise für die Verbrechen der Nazis. Sie sind stumme Zeugen des NS-Terrors. Nach Angaben der Gedenkstätte in Theresienstadt sind rund 1.500 Ghetto-Bewohner wegen "Verstößen gegen die Lagerordnung" wie unerlaubtes Rauchen im SS-Keller eingesperrt worden. "Ein Gefängnis im Gefängnis", sagt Lukas Lev, "von dem niemand wusste."
Ernst Grube erzählt vom Leben im Ghetto Theresienstadt
An einer der Wände ist der Name Vera zu sehen. "Ob ich damit gemeint bin, weiß ich nicht" lacht Vera Rosenzweig, heute Vera Idan. "Damals gab es viele Veras." Das Tagebuch der damals 16-Jährigen wurde nur zwei Häuser entfernt von der SS-Kommandantur entdeckt.
Die heute 96-jährige Vera Idan hat mit Theresienstadt, Auschwitz, Christianstadt und Bergen-Belsen vier Nazi-Schreckensorte überstanden. Vera Idan betont auf deutsch, sie sei "eine harte Nuss und ein großes Glückskind im Leben" gewesen. Die Zeitzeugin aus Tel Aviv hat Hitler 77 Jahre überlebt. Ihr persönlicher Triumph.
Uri Oliner, Neffe des Lagerältesten Jakob Edelstein freut sich über den Fund im SS-Keller:
Lukas Lev führt seit mehr als zehn Jahren vor allem junge Besuchergruppen durch Theresienstadt. Mit dem SS-Keller soll eine neue Station hinzukommen. "Die Inschriften von damals sind wie Facebook heute. Sie erzählen von Hoffnung, Verzweiflung und Überlebenswillen", ist Lev überzeugt. Der Holocaust sei nicht nur Geschichte, sondern Warnung und Weckruf. An die stummen Zeugen von Gewalt und Terror zu erinnern, sei wichtiger denn je.