US-Gesundheitsminister Kennedy will im Eilverfahren die Ursache von Autismus erforschen lassen. Experten befürchten, dass er lediglich lang widerlegte Verschwörungsmythen aufwärmt.
Vom Impfgegner zum Gesundheitsminister: Dass Robert F. Kennedy Jr. dieses Amt nun innehat, macht Fachleuten Sorgen.
Quelle: laif
US-Gesundheitsminister Robert F. Kennedy Jr. hat angekündigt, die Ursachen von Autismus erforschen zu wollen - in Rekordzeit bis September 2025. Die Verbreitung von Autismus in den USA hat nach seiner Ansicht das Ausmaß einer "Epidemie" erreicht.
Wissenschaftler und Fachleute äußern starke Zweifel an der Realisierbarkeit dieses Vorhabens und warnen vor der Verbreitung von Fehlinformationen. Was steckt dahinter?
Kennedy, Trump und die Mär von der gefährlichen Spritze
Bei einer im Fernsehen übertragenen Kabinettssitzung Anfang April - geleitet von US-Präsident Donald Trump - erklärte Kennedy, das US-Gesundheitsministerium habe eine "gewaltige" Forschungsinitiative gestartet, um die Ursachen der steigenden Autismus-Diagnosen zu ermitteln. Er betonte, dass Hunderte Forscher weltweit an der Untersuchung beteiligt sein würden:
Bis September werden wir wissen, was die Autismus-Epidemie verursacht hat. Und wir werden in der Lage sein, diese Gefahren zu eliminieren.
„
Robert F. Kennedy Jr., US-Gesundheitsminister
"Es muss etwas Künstliches da draußen geben, das dies verursacht", glaubt auch Trump. Vielleicht finde Kennedy eine Antwort darauf - vielleicht liege es am Essen, sagte der Präsident. "Oder vielleicht ist es eine Spritze."
Robert F. Kennedy Jr. gilt als Impfkritiker und verbreitet Verschwörungserzählungen. Trump sagte bei der Verkündung der Personalentscheidung: Kennedy werde Amerika wieder gesund machen.15.11.2024 | 1:26 min
Fachleute warnen vor Aufwärmen längst widerlegter Theorien
Fachleute aus dem Gesundheitswesen und der Wissenschaft äußerten erhebliche Bedenken hinsichtlich Kennedys Ankündigung. Peter Marks, ehemaliger Leiter des US-Zentrums für Biologika-Bewertung und -Forschung (CBER) der US-Behörde für Lebens- und Arzneimittel (FDA), bezeichnete das Versprechen als unrealistisch und warf Kennedy vor, Familien falsche Hoffnungen zu machen. Marks betonte, dass Autismus eine komplexe neuroentwicklungsbedingte Störung sei, deren Ursachen nicht in einem so kurzen Zeitraum ermittelt werden könnten.
Auch andere Experten warnten davor, dass Kennedys Initiative längst widerlegte Theorien wiederbeleben könnte, insbesondere die angebliche Verbindung zwischen Impfstoffen und Autismus. Kennedy hat in der Vergangenheit mehrfach die widerlegte These vertreten, Impfungen in der Kindheit führten zu Autismus.
Autismus ist eine angeborene Entwicklungsstörung im Gehirn. Sie äußert sich durch eine Vielzahl von Symptomen, zu denen Verzögerungen in den Bereichen Sprache, Lernen und soziale oder emotionale Fähigkeiten gehören können.
Eine Vielzahl wissenschaftlicher Studien legt nahe, dass Autismus eine starke genetische Komponente hat. Es sind bereits zahlreiche Gene identifiziert, die das Risiko für Autismus erhöhen können. Meist handelt es sich jedoch um ein komplexes Zusammenspiel mehrerer Gene und nicht um "das eine" Autismus-Gen.
Zusätzlich zur genetischen Veranlagung spielen wahrscheinlich auch Umweltfaktoren eine Rolle - beispielsweise bestimmte Einflüsse während der Schwangerschaft (wie sehr hohes Alter der Eltern, bestimmte Infektionen oder möglicher Kontakt mit bestimmten Schadstoffen). Diese Faktoren allein sind jedoch selten "auslösend", sondern tragen im Zusammenspiel mit der genetischen Disposition zur Entwicklung von Autismus bei.
Die häufig geäußerte Vermutung, Impfungen würden Autismus auslösen, ist in zahlreichen Studien widerlegt worden. Insbesondere der Mythos, der Masern-Mumps-Röteln-Impfstoff löse Autismus aus, ist wissenschaftlich eindeutig entkräftet. Auch die These, Autismus entstehe durch lieblose Erziehung, gilt als widerlegt.
Bildgebende Verfahren wie MRT deuten darauf hin, dass Veränderungen in der Gehirnentwicklung und -struktur (etwa bei der Konnektivität verschiedener Hirnareale) für autistische Verhaltensmerkmale mitverantwortlich sind. Hierbei kommt es zu komplexen Wechselwirkungen zwischen Genetik und Umwelt.
Kann man bei Autismus von "Epidemie" sprechen?
In den letzten Jahrzehnten ist die Zahl der Autismus-Diagnosen tatsächlich deutlich gestiegen. Laut der US-Gesundheitsbehörde CDC ist eines von 36 Kindern, die 2012 in den USA geboren wurden, Autist. Bei 1992 geborenen Kindern lag die Häufigkeit demnach bei eins zu 150. Einer Studie im Fachblatt "Pediatrics" aus dem Jahr 2023 zufolge sind die Fälle von Autismus-Spektrum-Störungen (ASD) in der Metropolregion New York/New Jersey zwischen 2000 und 2016 um bis zu 500 Prozent gestiegen.
Allerdings spricht man in der Wissenschaft überwiegend nicht von einer "Epidemie" im Sinne einer plötzlich auftretenden, massenhaften "Neu-Erkrankung" wie bei Infektionskrankheiten.
Das Asperger-Syndrom ist eine Form des Autismus, von der schätzungsweise ein bis zwei Prozent der Bevölkerung betroffen sind.08.01.2019
Als Hauptursachen für den Anstieg gelten bessere Diagnoseverfahren, geänderte diagnostische Kriterien (etwa das Aufgehen verschiedener Störungsbilder im Autismus-Spektrum) und eine höhere Aufmerksamkeit für das Thema - auch bei Eltern, Lehrkräften und Ärzt*innen. Das heißt: Ein Großteil des Anstiegs der registrierten Fälle dürfte darauf zurückzuführen sein, dass Menschen, die früher möglicherweise nicht als "autistisch" diagnostiziert worden wären, heutzutage diese Diagnose erhalten.
Hinzu kommt, dass Betroffene und Angehörige offener mit dem Thema umgehen als noch vor wenigen Jahrzehnten.
Impfskeptiker als Gesundheitsminister
Weltweit liegen die Impfquoten hinter dem Vor-Corona-Niveau.26.07.2024 | 1:35 min
Kennedy galt als ein angesehener Anwalt für Umweltrecht, bevor er zunehmend mit Verschwörungserzählungen für Aufmerksamkeit sorgte. Mittlerweile hat er öffentlich behauptet, WLAN verursache Krebs, Antidepressiva seien Schuld an Schießereien an Schulen und Chemikalien in der Umwelt machten Kinder zu Transgendern.
In den vergangenen zwei Jahrzehnten warnte er zudem immer wieder vor angeblichen Gesundheitsgefahren durch Impfungen und stellte dabei eine Verbindung zwischen der Impfung gegen Masern und Autismus her. Diese Theorie geht auf eine verfälschte Studie des britischen Arztes Andrew Wakefield zurück, die durch eine Reihe von Studien widerlegt wurde. Wakefield und Kennedy arbeiteten in der Vergangenheit immer wieder zusammen, unter anderem war Kennedy an einer stark kritisierten Dokumentation von Wakefield über Impfungen beteiligt.
Frühkindlicher Autismus gilt als schwerste Form der Autismus-Spektrum-Störungen. Die sprachliche und geistige Entwicklung der Kinder ist meist stark verzögert oder sogar gemindert.02.04.2024 | 5:30 min
Zweifel an Studienleitung durch David Geier
Besorgnis erregt auch, dass David Geier die geplante Studie leiten soll. Geier ist kein approbierter Arzt, sondern besitzt lediglich einen Bachelor-Abschluss in Biologie. Er arbeitete eng mit seinem Vater Mark Geier zusammen, der 2011 seine ärztliche Zulassung verlor, nachdem er Kinder mit Autismus mit riskanten und nicht zugelassenen Hormontherapien behandelt hatte. David Geier selbst wurde damals von der Ärztekammer des US-Bundesstaates Maryland mit einer Geldstrafe belegt, weil er ohne medizinische Zulassung Patienten behandelt hatte.
Die von den Geiers veröffentlichten Studien, die einen Zusammenhang zwischen dem Impfstoffbestandteil Thiomersal und Autismus behaupten, wurden von der wissenschaftlichen Gemeinschaft weitgehend zurückgewiesen. Seine Ernennung zur Leitung der Autismus-Studie wird von vielen Fachleuten als Rückschritt in der evidenzbasierten Forschung betrachtet.