Zweijährige Jugendstrafe für frühere KZ-Sekretärin

    Stutthof-Prozess:Jugendstrafe für frühere KZ-Sekretärin

    Christoph Schneider
    von Christoph Schneider
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    Der Prozess gegen eine 97-jährige ehemalige KZ-Sekretärin wegen Beihilfe zum Mord im KZ Stutthof endet mit einer Jugendstrafe - und einer Urteilsbegründung, die nachhallt. 

    Mit leichter Verspätung beginnt der letzte Prozesstag im voll besetzten extra hergerichteten Saal im China Logistic Center im Gewerbegebiet von Itzehoe. Da fand schon der ganze Prozess statt, auch wegen der am Anfang zahlreichen 31 Nebenklagevertreter, die man nicht alle in einem Sitzungssaal im normalen Gebäude des Landgerichts Itzehoe hätte unterbringen können.

    Angeklagte zu Jugendstrafe verurteilt

    Acht Nebenkläger, die sich vielfach an schreckliche Details erinnerten, haben in dem Prozess auch persönlich, teilweise per Videovernehmung, ausgesagt. "Eine quälende Tortur" wird der Vorsitzende Richter später sagen.
    Binnen drei Minuten kommen die Verteidiger, die 97-jährige Angeklagte Irmgard F. und schließlich das Gericht in den Saal. Die Kameras werden nach draußen gebeten und dann das Urteil um 10.08 Uhr: Die Angeklagte wird wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und zur versuchten Beihilfe zum Mord in fünf Fällen zu einer Jugendstrafe von zwei Jahren verurteilt. Die Vollstreckung wird zur Bewährung ausgesetzt.

    Irmgard F. ohne erkennbare Regung

    Die jetzt verurteilte Irmgard F. nimmt den Spruch ohne erkennbare Regung zur Kenntnis, bleibt auch während der gesamten Begründung starr in ihrem Rollstuhl, schaut stur nach vorne. Damals, in der Zeit von 1943 bis 1945 war sie 18, 19 Jahre alt - also eine Heranwachsende, deswegen das Verfahren jetzt vor einer Jugendkammer.  
    Mit seiner ausführlichen Urteilsbegründung hat es sich der Vorsitzende Richter der 3. Jugendkammer des Landgerichts Itzehoe, Dominik Groß, wahrlich nicht leicht gemacht – sie dauert etwas länger als eine Stunde. Denn es ist weit mehr als nur eine mündliche Urteilsbegründung. Es ist auch die Rechtfertigung für einen Prozess, der vielfach als überflüssig angesehen wurde.

    Richter: Justiz zum Handeln verpflichtet

    "Der Prozess", so beginnt Groß, "musste stattfinden, denn es gibt Straftaten, deren Verfolgung nicht verjährt." Mord ist so ein Delikt. Und da ist die Justiz zum Handeln verpflichtet, auch wenn es spät ist, "und es ist sehr spät", betont der Vorsitzende Richter, der ruhig und sachlich spricht. Öfter muss er sich räuspern, verzichtet trotzdem auf einen Schluck Wasser, um konzentriert, fast fehlerfrei, das Formulierte ohne Pausen vorzutragen.  
    Warum das Verfahren so lange dauerte, wie aufwendig die Prozessvorbereitungen in den Hochzeiten der Pandemie waren und warum der Prozess trotzdem die richtige Antwort des Rechtsstaats war, all das formuliert Groß. Und lobt auch die Kooperation der Irmgard F., die sich dem Verfahren stellte, wobei sich das Gericht "gerne eine sprechende Angeklagte gewünscht" hätte, aber auch "Schweigen ist ihr gutes Recht". 
    Und am Ende habe die Angeklagte in ihren Schlussworten doch noch drei Sätze gesagt:

    Es tut mir leid, was alles geschehen ist. Ich bereue, dass ich zu der Zeit gerade in Stutthof war. Mehr kann ich nicht sagen.

    Irmgard F.

    Für die Jugendkammer kein Eingeständnis ihrer Schuld, aber es seien Worte des Bedauerns gewesen, die zeigten, dass das Verfahren nicht spurlos an Irmgard F. vorbeigezogen sei.

    Im Vorzimmer des Lagerleiters Hoppe

    Und die rechtliche Würdigung ist für das Gericht klar. Eine junge Stenotypistin mit überdurchschnittlichen Fähigkeiten, die im Vorzimmer des herrischen Lagerleiters Hoppe, der auch rasch Leute austauschte, die ihm nicht passten, fast zwei Jahre durchgängig ohne Fehlzeiten tätig war - sie blieb.
    Und schrieb Lagerlisten, Gefangenentransporte, war die zentrale Schnittstelle zum Lagerleiter. Dass sie Stutthof nicht kannte, "liegt schlicht außerhalb jeglicher Vorstellungskraft", ist das Gericht überzeugt. Die Beihilfe zum Mord sei gegeben, denn Irmgard F. förderte die Arbeit des Lagerkommandanten auch durch ihre Schreibtätigkeit aktiv mit.
    "Komplizen des Bösen - 1939-1942: Heydrich und der Holocaust": Spielszene: Reinhard Heydrich (Darsteller unbekannt) und Heinrich Himmler (Darsteller unbekannt) im Gespräch. Sie laufen gemeinsam durch einen Gefängnis-Flur.
    Himmler, Heydrich und Göring kämpfen mit allen Mitteln um die Macht in Hitlers Schatten. Die Vorbereitung des Holocaust entlarvt die Komplizen des Diktators als gewissenlose Verbrecher. 05.09.2020 | 44:06 min
    Und nach der Begründung der Strafaussetzung zur Bewährung stellt Richter Groß fest: "An ihr ist nichts wiedergutzumachen." So endet nach einer Stunde und sieben Minuten ein in jeder Hinsicht eindrucksvoller und eindringlicher Prozess.
    Christoph Schneider ist Redakteur in der Fachredaktion Recht & Justiz.

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