Das russische Verteidigungsministerium schickt nach offiziellen Angaben keine Wehrpflichtigen in Frontgebiete. In der Bevölkerung machen sich jedoch Zweifel breit.
Bei der diesjährigen Einberufungskampagne ist vieles anders als sonst. Die russische Regierung will 134.500 Männer zum Militärdienst verpflichten - das Ziel liegt damit im üblichen Rahmen. Die Frage ist jedoch, was genau diesen Männern während ihrer einjährigen Wehrpflicht bevorstehen wird. Vieles deutet darauf hin, dass sie schnell in einem Kampfgebiet landen könnten und dort um ihr Leben fürchten müssten.
Russische Bevölkerung zweifelt an Aussagen des Verteidigungsministeriums
Der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu sagte diese Woche, die neuen Rekruten würden nicht in Frontgebiete oder "Brennpunkte" geschickt. In großen Teilen der Bevölkerung stieß diese Aussage aber auf Skepsis. Viele erinnern sich noch an die beiden Tschetschenienkriege in den 90er und 2000er Jahren, in denen Tausende schlecht ausgebildete junge Soldaten getötet wurden. Auch Vorgänge im Vorfeld der Invasion in die Ukraine lassen viele Betroffene zweifeln.
Die aktuelle Einberufungskampagne läuft seit Freitag. Theoretisch müssen alle russischen Männer im Alter zwischen 18 und 27 Jahren für ein Jahr dienen. Bisher konnten viele aber eine Einberufung vermeiden, etwa aus gesundheitlichen Gründen oder weil sie wegen einer Universitätsausbildung zurückgestellt wurden. Vor allem in Moskau und anderen größeren Städten ist der Anteil derer, die keinen Militärdienst leisten, traditionell hoch.
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Russische Wehrpflichtige scheinbar in ukrainischer Gefangenschaft
Präsident Wladimir Putin und seine Regierung hatten zunächst behauptet, in dem Angriffskrieg gegen die Ukraine, den sie in ihrer Propaganda stets nur als eine "militärische Spezialoperation" bezeichnen, kämen keine Wehrpflichtigen zum Einsatz. Doch schon in den ersten Tagen gerieten offenbar zahlreiche russische Wehrpflichtige auf ukrainischem Boden in Gefangenschaft. In Videos, die sich im Internet verbreiteten, wandten sich einige von ihnen an ihre Eltern.
Die Mutter von einem Betroffenen sagt, sie habe ihren 20-jährigen wehrpflichtigen Sohn in einem der Videos erkannt, obwohl seine Augen verbunden gewesen seien. "Ich habe ihn an seinen Lippen, an seinem Kinn erkannt. Ich hätte ihn an seinen Fingern erkannt", sagt die Frau, die aus Sorge um ihre Sicherheit nur ihren Vornamen Ljubow nennen will. "Ich habe ihn gestillt. Ich habe ihn großgezogen."
Das Verteidigungsministerium musste früh einräumen, dass doch auch russische Wehrpflichtige in die Ukraine geschickt worden seien. Dies sei "aus Versehen" geschehen, und die in Gefangenschaft Geratenen hätten in einer Versorgungseinheit fernab der Front gedient, hieß es.
Wehrpflichtige zur Unterzeichnung von Verträgen gezwungen
Berichten zufolge wurden Wehrpflichtige vor der Invasion genötigt, Verträge zu unterschreiben, laut denen sie in ein Kampfgebiet geschickt werden können - was sonst nur für Berufssoldaten gilt. Einige Gefangene erklärten, ihre Vorgesetzten hätten ihnen erzählt, sie seien auf dem Weg zu einer Militärübung.
Mehr als 400.000 freiwillige Vertragssoldaten in Russland
In den zurückliegenden Jahren gab sich der Kreml bemüht, im Rahmen der Modernisierung der Streitkräfte den Anteil der Berufssoldaten zu erhöhen. Aktuell befinden sich unter den etwa einer Million Angehörigen der Truppe mehr als 400.000 freiwillige Vertragssoldaten. Ob die Zahl auch im Falle eines länger andauernden Krieges in der Ukraine ausreichen würde, ist jedoch fraglich.
Moskau müsste sich früher oder später entscheiden: Entweder mit einer begrenzten Zahl von Soldaten weiterzukämpfen und womöglich einige der militärischen Ziele zu verfehlen, oder aber weitere Männer zum Dienst an der Waffe einzuberufen und damit einen öffentlichen Widerstand zu riskieren, der die politische Lage destabilisieren könnte. Eine solche Entwicklung gab es während der russischen Kriege in Tschetschenien.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.