Fünf Briefe an Angela Merkel. 2.400 Visa-Verfahren blieben wochenlang liegen. Bundeswehroffizier Grotian schildert bei "Markus Lanz" Hintergründe des Evakuierungs-Chaos von Kabul.
"Ich fühle mich verletzt. Ich fühle mich angefasst. Denn diese Menschen haben wir zurückgelassen. Das finde ich furchtbar." Worte des Bundeswehroffiziers Marcus Grotian bei Markus Lanz.
Grotian ist Vorsitzender des Patenschaftsnetzwerks Afghanische Ortskräfte. Ein gemeinnütziger Verein, der sich seit Machtübernahme der Taliban in Afghanistan – und auch schon davor – für die in Kabul und anderen Städten zurückgelassenen Ortskräfte einsetzt.
Die aktuellen Anschläge kommentiert Grotian nicht - die Sendung war voraufgezeichnet worden.
Alles zu den verheerenden Anschlägen am Airport Kabul finden Sie in unserem Liveblog zur Entwicklung in Afghanistan:
- Die aktuelle Entwicklung in Afghanistan
Die Taliban haben die Macht in Afghanistan übernommen, westliche Staaten versuchen, Staatsbürger und ehemalige Ortskräfte aus Kabul auszufliegen. Die Entwicklungen hier im Blog.
Grotian: Von eigener Regierung "moralisch verletzt"
Grotian war einst in Afghanistan stationiert. Bei der Bundespressekonferenz hatte er zuletzt davon gesprochen, "von der eigenen Regierung moralisch verletzt" zu sein.
Im Gespräch mit Lanz vertiefte Grotian diese Aussage. Und verband sie unter anderem mit der Wichtigkeit einheimischer Ortskräfte in zurückliegenden Einsätzen.
"Ortskräften entgegenkommen"
"Viele militärische Aufgaben werden erst möglich, weil wir die Ortskräfte haben." Grotian weiter:
Diese Ortskräfte würden von der Bundesrepublik Deutschland in verschiedenen Ministerien angestellt. "Jemandem, der in einem Arbeitsverhältnis mit uns steht, dessen Leben durch die Arbeit für uns bedroht ist, schulden wir ein gewisses Entgegenkommen.“
Die ganze Sendung "Markus Lanz" sehen Sie hier:
"Keine Antwort aus dem Kanzleramt"
Grotian betonte, er habe seit dem 1. Juni im Namen seines Vereins und internationaler Organisationen mit fünf Briefen "an die Bundeskanzlerin" versucht, darauf hinzuweisen, dass schnell gehandelt werden muss, um besagte afghanischen Ortskräfte nach Deutschland in Sicherheit zu bringen.
"Ich habe nie eine Antwort bekommen", sagte Grotian nun bei Lanz. Besonders bitter daran: die bürokratischen Hürden, die die Rettung in den Augen des Offiziers erst verzögert und dann unmöglich gemacht haben.
"'Bewährten Verfahren' weiter durchgeführt"
Grotian nahm eine "Verantwortungsdiffusion bis zum Schluss" wahr. Und weiter: "Es hat neuralgische Punkte gegeben, wo man sich nicht dazu entschieden hat, das jetzt schnell durchzuführen, sondern die 'bewährten Verfahren' weiter durchzuführen." Das Ergebnis sei inakzeptabel.
Als Beispiel nannte Grotian, dass es am 30. Juni vonseiten der Regierung geheißen habe, 2.400 Visa seien erstellt worden. Dreieinhalb Wochen später sei das dann immer noch der Stand gewesen:
Er erzählte von Gefährdungsanzeigen, die von deutschen Behörden geprüft werden mussten, von Fragen nach der Antragsberechtigung von Ortskräften und von der Unmöglichkeit neuer Visa-Verfahren.
"Am Lösen der Aufgabe gescheitert"
Es habe schlichtweg keine Stelle dafür gegeben. "Wenn unsere bürokratischen Regeln an etwas andocken, was der ein oder andere Krieg oder kriegsähnliche Zustände nennt, dann darf nicht das bürokratische Abarbeiten von Verfahren der Schwerpunkt sein, sondern das Lösen der Aufgabe", kritisierte Grotian.
Das Lösen der Aufgabe sei gewesen, Menschen in Sicherheit zu bringen. "Daran ist man hier gescheitert." Als man dann die Bürokratie auch noch an eine UN-Tochter ausgelagert habe, hätten die Prozesse dann "die Flexibilität der Titanic" gehabt. Grotian schloss mit den Worten: "Und das Ergebnis sehen wir."
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