Das ZDF-Magazin "frontal" hat Kontakt zu einem 28-Jährigen, der seit drei Wochen in Kabul vergebens auf Rettung hofft. Kabul werde immer gefährlicher, sagt er.
Deutschland hat Tausende seiner ehemaligen Ortskräfte in Afghanistan zurückgelassen. frontal hat Kontakt zu einem 28-Jährigen, der für die Bundeswehr gearbeitet hat,
Amir hat mehr als fünf Jahre für die deutschen Truppen in Afghanistan gearbeitet. Seinen echten Namen nennen wir nicht, um ihn zu schützen. Er hat Angst vor der Rache der Taliban, ist in Kabul untergetaucht: "Manchmal denke ich, dass mir die Taliban den Kopf abschneiden und ihn an meine Familie schicken. Ich habe wirklich Angst", sagt er uns im Videochat.
Amir war im Bawar Medienzentrum in Masar-i-Scharif angestellt. Seite an Seite mit Bundeswehr-Soldaten haben er und seine Kollegen einen Informationskrieg gegen die Taliban geführt - übers Internet und im Radio.
Amir fühlt sich im Stich gelassen
Das ZDF hat 2018 über die Arbeit des Medienzentrums berichtet und Amir interviewt. "Wir wollen, dass die Menschen verstehen, dass es uns um den Aufbau einer Zivilgesellschaft geht, dass in Afghanistan Soldaten ihr Blut vergießen, damit man hier irgendwann einmal anständig leben kann," sagte er damals.
Seit Tagen ist das ZDF-Magazin "frontal" mit Amir in Kontakt - über Sprachnachrichten, Videochats und am Telefon schildert er die Lage in Kabul. Von der Bundeswehr fühlt er sich im Stich gelassen. Wir verfolgen seinen verzweifelten Kampf um seine Rettung.
In wenigen Tagen endet die Evakuierungsmission der Bundeswehr. Für viele Afghanen, die noch ausreisen wollen, wird nun die Zeit knapp.
Montag, 9. August
Amir bekommt eine Nachricht von der Bundeswehr: "Da Ihre Beschäftigung für die Deutschen Streitkräfte 2016 endete (…), sind Sie nicht berechtigt, am Einreiseprogramm teilzunehmen." Zwar hatte er seinen ersten Vertrag direkt mit der "Bundesrepublik Deutschland" abgeschlossen, "vertreten durch das Bundesministerium der Verteidigung". Doch diese Tätigkeit endete 2016.
Danach war Amir beim Medien-Zentrum angestellt. Die gleiche Arbeit, nur bei einem afghanischen Subunternehmen. Deshalb ist Amir zunächst nicht auf der Liste.
Sonntag, 15. August
Die Taliban erobern Kabul. Die USA beginnen damit, eigene Staatsbürger und Ortskräfte aus Afghanistan zu bringen. Die deutsche Luftbrücke startet erst einen Tag später.
Mittwoch, 18. August
Das Bundesverteidigungsministerium entscheidet, auch die ehemaligen Mitarbeiter des Bawar Medienzentrums in das Ortskräfteverfahren aufzunehmen.
- Was der Afghanistan-Abzug der USA bedeutet
Bis zum 31. August sollen alle US-Truppen aus Afghanistan raus. Wieso der US-Präsident bei dieser Deadline bleibt und welche Folgen das hat - Antworten auf die wichtigsten Fragen.
Donnerstag, 19. August
Amir bekommt um 16 Uhr einen Anruf von der Bundeswehr: "Sie haben mir gesagt, dass ich auf der Liste bin und dass ich mit meiner Frau und meinen beiden kleinen Kindern so schnell wie möglich zum Flughafen kommen soll. Ich war total glücklich."
Amir schlägt sich bis zum Nord-Tor des Flughafens durch. Doch dort drängen sich schon Tausende Menschen. Die meisten von ihnen seien nicht ausreiseberechtigt gewesen, sagt Amir. "Leider waren da keine deutschen Soldaten, die uns hätten eskortieren können. Und die Amerikaner haben uns nicht durchgelassen. Ein totales Missmanagement."
Für ihn gibt es kein Durchkommen: "Die Sicherheitskräfte haben in die Luft geschossen und Tränengas eingesetzt. Die Kinder konnten kaum noch atmen." Bis 3 Uhr morgens bleibt Amir vor dem Flughafen. Dann gibt er auf.
- Wie geht es ohne Luftbrücke in Kabul weiter?
Am Donnerstag stoppt die Bundeswehr ihre Rettungsflüge aus Afghanistan. Doch es gibt eine Hoffnung für Ortskräfte: Erlauben die Taliban zivile Flüge im Tausch gegen Nothilfe?
Freitag, 20. August
Um 16:20 Uhr erreichen wir Amir über Videochat. Er ist mit seiner Familie bei einem Freund in Kabul untergekommen. Er appelliert an die deutsche Bundesregierung:
Samstag, 21. August
Amir fährt wieder zum Flughafen - mit seiner Frau, seinem dreijährigen Sohn und seiner Tochter. Sie ist erst einen Monat alt. Er berichtet uns: "Mehr als 10.000 Menschen waren da. Die Sicherheitskräfte haben uns mit Waffen bedroht. Wir hatten keine Chance durchzukommen."
Sonntag, 22. August
Die Bundeswehr ruft bei Amir an. Er soll mit seiner Familie zum Flughafen kommen. Dort aber eskaliert die Lage. Amir berichtet: "Vier Männer wurden getötet. Und ich habe ihre Leichen gesehen, die mit Kleidern bedeckt waren. Das ist schrecklich. Es wird von Tag zu Tag schrecklicher. Ich gehe jetzt nach Hause, weil ich wieder sehr frustriert bin."
- Afghanistan: Terrorgefahr am Flughafen Kabul
Gefährlich war es rund um den Flughafen von Kabul zweifelsohne schon zuvor - doch nun scheint die Gefahrenlage neue Ausmaße zu erreichen. Einige Botschaften warnen vor Terror.
Montag, 23. August
Die Internetverbindung in Kabul wird immer schlechter. Amir schickt uns eine Sprachnachricht: "Wir sind jetzt in einem Haus in der Nähe des Flughafens - zusammen mit vielen ehemaligen Kollegen des Medienzentrums. Wir sollen hier warten."
Dienstag, 24. August
Gegen 16 Uhr erreichen wir Amir über Videochat. In der Nacht hatte er es mit seiner Familie endlich in den Flughafen geschafft – doch nur bis zu den Kontrollen: "Als ich zu den Deutschen kam, haben sie mir gesagt: 'Dein Name ist nicht auf der Liste. Bitte geh’ zurück.' Ich habe ihnen meine Dokumente gezeigt, dass ich ausreiseberechtigt bin. Doch sie haben uns aus dem Flughafen rausgeschmissen. Ich bin total verzweifelt."
Wir fragen die Bundeswehr an, wie es dazu kommen konnte. Ein Sprecher des Einsatzführungskommandos schreibt uns: "Nach derzeitigem Kenntnisstand befand sich Herr […] gestern bereits im Flughafen Kabul und musste diesen wenig später aus noch ungeklärten Gründen wieder verlassen."
Mittwoch, 25. August
Die Bundeswehr meldet sich bei Amir, sagt, er solle zum Flughafen kommen. "Drei Mal habe ich es versucht. Aber das war unmöglich. Die Taliban haben Kontrollpunkte eingerichtet und uns zurückgedrängt.
Donnerstag, 26. August
Die Bundeswehr fliegt 150 weitere Menschen aus Kabul aus. Es ist einer der letzten Evakuierungsflüge der Bundeswehr. Amir ist nicht dabei. Er ist immer noch in Kabul. "Es gibt bei mir leider nichts Neues. Ich bin komplett frustriert." Seine Zeit läuft ab.
Wegen des Abzugs der US-Truppen und der sich verschärfenden Bedrohungslage um den Flughafen beendet die Bundeswehr die Operation. In der Nähe des Flughafens gibt es mehrere Anschläge, mindestens zwölf US-Soldaten wurden getötet. Amir hat Glück gehabt:
Montag, 30. August
Wir sprechen mit Amir über WhatsApp und wollen wissen, wie es ihm geht. Kabul werde immer gefährlicher, sagt er. Es gebe Explosionen, Selbstmordanschläge und die Taliban kontrollierten die gesamte Stadt: "Man ist nirgends mehr sicher. Ich bin wieder im Haus meines Freundes und versuche, mein Leben und das meiner Familie zu retten."
Wir fragen Amir, ob er noch einen Ausweg sieht: "Es gibt keine Möglichkeit mehr, von Kabul aus zu fliegen. Ich muss also versuchen, auf dem Landweg nach Usbekistan zu kommen. Aber das ist mit hohen Risiken verbunden. Dann gibt es nur zwei Möglichkeiten: sterben oder überleben." Er fühlt sich von Deutschland im Stich gelassen: "Mein Appell an die Bundeswehr ist: Bitte finden Sie eine Lösung, um mich zu retten. Ich bin ein Mensch. Ich habe ein Recht zu leben."