Eine Woche nach Abzug der Bundeswehr steht Masar-i-Scharif kurz vor der Eroberung durch die Taliban. Die afghanische Armee droht überrannt zu werden.
Familien mit kleinen Kindern drängen sich im Flughafen, sie alle wollen nach Kabul, in Sicherheit. Abdul Wahed hat für seine Frau und die drei Kinder noch rechtzeitig Tickets gebucht. Der 34-Jährige hat als Dolmetscher für die Bundeswehr gearbeitet - seit Wochen schon fürchtet er Racheakte.
Noch im März hatte das ZDF den 34-Jährigen zuhause besucht und interviewt: Da hatte er noch Hoffnung, sich für ein Visum in Deutschland bewerben zu können. "Ich kann in Masar nicht bleiben. Wenn die Taliban hier sind, ist das lebensgefährlich für mich und meine Familie."
Mein Kollege Nesar Fayzi beschreibt die Lage vor Ort:
Seit 20 Jahren wütet Krieg in Afghanistan und hat Hunderttausende Menschen das Leben gekostet. Nun haben die USA den Truppenabzug beschlossen. Doch in Afghanistan herrscht Chaos.
Taliban bringen schnell Bezirke unter Kontrolle
Auch einige unserer Gesprächspartner, die wir noch vor kurzem in Masar-i-Scharif getroffen haben, mussten die Stadt verlassen. Dirk Drewes, Projektleiter im Auftrag der deutschen KfW hatte Hoffnung gehabt, seine Arbeit auch nach dem Abzug der Bundeswehr fortsetzen zu können.
"Afghanistan braucht unsere Aufbauhilfe, deshalb bleibe ich hier", hatte er mir gesagt. Nun ist er in Usbekistan. Im Hotel Quishlaq, zwischen Flughafen und Bundeswehrcamp gelegen, sind wir wahrscheinlich die letzten Gäste gewesen - der Besitzer hat die Flucht ergriffen und das Haus hinterlassen.
Dass es so schnell gehen würde, damit hatten nur wenige gerechnet. Doch die Taliban haben die Lage genutzt, das Machtvakuum, das durch den Abzug der USA und ihrer Verbündeten entstanden ist. Es eröffnet den Kämpfern den Weg zur Macht, mit Gewalt.
Ein Viertel der Bezirke im Land haben die Taliban seit Beginn des Abzugs der internationalen Truppen Anfang Mai erobert. Allein am Wochenende nahmen sie nach Behördenangaben mindestens 28 Bezirke in mindestens acht Provinzen ein.
Nachbar von Afghanistan ist alarmiert
Der einst als relativ sicher geltende Norden ist auch symbolisch für die Taliban eine wichtige Region, denn hier sitzen ihre mächtigsten Gegner: Warlords wie Raschid Dostum, der schon 2001 mit seinen Milizen gegen die Taliban kämpfte. Oder Ahmad Massoud, dessen Vater von den Islamisten ermordet wurde. Er zieht nun mit einer schwerbewaffneten Armee wieder in den Kampf.
Afghanistans Nachbarstaaten sind alarmiert: So mobilisiert das Nachbarland Tadschikistan 20.000 Militärreservisten zum Schutz der Grenze.
20 Jahre Afghanistan-Einsatz stehen auf dem Spiel
Die Situation ist brandgefährlich: Denn je mehr Milizen und bewaffnete Bürger in den Kampf ziehen, desto mehr verliert die Regierung von Präsident Ghani die Kontrolle. Eine Situation, die an die dunklen Jahre erinnert, die auf den Abzug der sowjetischen Truppen folgte - ein Bürgerkrieg, der Hunderttausende Afghanen das Leben kostete.
Wie werden die USA auf die dramatische Entwicklung in Afghanistan reagieren? Eine Frage, die sich vor allem die Afghanen stellen, die jetzt um das fürchten, was in 20 Jahren erreicht wurde und das nun auf dem Spiel steht.
- Welches Ziel haben die Taliban?
Die Taliban sind auf dem Vormarsch und kontrollieren inzwischen mehr als die Hälfte Afghanistans. Was ist ihr Ziel? Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid im ZDFheute-Interview.