Kann sich Deutschland leisten, auf die Atomkraft zu verzichten? Darüber ist Streit ausgebrochen. Was dafür spricht, was dagegen: ein Überblick über den Stand der Diskussion.
Können die Atomreaktoren länger laufen?
Dafür müsste das Atomgesetz geändert werden. Die Betriebserlaubnis läuft für die drei verbliebenen Kraftwerke Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim am 31. Dezember ab. Strittig ist, ob sie im sogenannten Streckbetrieb trotzdem noch einige Zeit Strom produzieren können. Das bedeutet, dass die vorhandenen Brennelemente bis zum Maximum genutzt werden, wie es etwa in Frankreich üblich ist. In Deutschland wurden sie bislang früher ausgewechselt.
Die Befürworter berufen sich auf ein Gutachten des TÜV Süd, wonach die vorhandenen Brennelemente über Januar hinaus weiter Strom liefern könnten, Isar 2 etwa bis August 2023. Das bestreiten die Gegner nicht, gehen aber von einer geringeren Menge im Streckbetrieb aus. Ein von Greenpeace in Auftrag gegebenes Gegen-Gutachten kommt daher zu dem Schluss, dass die TÜV-Prüfung im Auftrag des bayerischen Umweltministeriums nur eine Gefälligkeit gewesen sei.
Ob längere AKW-Laufzeiten in den nächsten zwei bis drei problematischen Wintern helfen, bezweifeln manche. Denn es dauert ebenfalls etwas Zeit, neue Brennelemente zu beschaffen. Sie sind bislang nicht bestellt worden. Und: Das darin enthaltene Uran stammt zum Großteil aus Russland.
Wie sicher sind die Reaktoren?
Knackpunkt bei der Betriebserlaubnis laut Atomgesetz ist die "periodische Sicherheitsüberprüfung", also der regelmäßige Sicherheitscheck von Kernkraftwerken alle zehn Jahre. Diese Prüfung war für die verbliebenen Reaktoren 2019 ausgesetzt worden - unter der Maßgabe, dass sie drei Jahre danach, also Ende 2022, ihren Betrieb einstellen. Denn ein solcher Check dauert oft Jahre.
- Wird auch der Strom im Winter knapp?
Ein Blackout im Winter - das könnte eine Folge des Ukraine-Kriegs sein. Bisher gilt die Stromversorgung in Deutschland als relativ sicher. Doch hält dies auch über den Winter?
Nach Meinung des Bundesumweltministerium könne es ohne neue Sicherheitsüberprüfung aber keine Verlängerung geben. Denn so steht es im Atomgesetz: Ohne Sicherheitsüberprüfung erlischt die Betriebserlaubnis. Die TÜV-Prüfer berufen sich auf ältere Begutachtungen nach dem Fukushima-Unglück 2011 und haben "keine Bedenken" zum Weiterbetrieb. Außerdem: Eine Änderung des Atomgesetzes sei bis Ende des Jahres möglich.
Andere kommen zu dem Schluss, dass vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges die Risikoabwägung zwischen Versorgung und Sicherheit vollkommen neu gemacht werden müsste. Klagen gegen längere Laufzeiten per Gesetz sind daher nicht unwahrscheinlich.
Gibt es weitere Risiken?
Neben technischen Risiken gibt es noch ein Problem: Die Betreiber haben signalisiert, dass sie die Haftung nicht übernehmen wollen, sollte im Streckbetrieb etwas passieren. Dazu kommen finanzielle Risiken für den Steuerzahler.
Die Betreiber der Reaktoren bekommen für den vom Bund beschlossenen Ausstieg aus der Kernenergie eine finanzielle Entschädigung. EnBW hat einen Anspruch auf 80 Millionen Euro, PreussenElektra auf 42,5 Millionen und REW auf 20 Millionen Euro. Würden die Unternehmen von verlängerten Laufzeiten profitieren, könnten sie wohl kaum auf die volle Summe bestehen. Oder aber, was noch wahrscheinlicher ist, sie könnten vom Staat eine Entschädigung dafür verlangen, dass sie nach dem Ausstiegsbeschluss nun doch wieder ihre Betriebe aufrechterhalten sollen.
Deutschland will und muss sich unabhängig von russischem Gas machen. Zeitgleich ist der Atomausstieg Ende 2022 beschlossene Sache.
Der Präsident des Bundesamtes für die Sicherheit der nuklearen Entsorgung, Wolfram König, verweist außerdem auf das Problem der Entsorgung und die bislang erfolglose Suche nach einem Endlager für den Atommüll. König ist deswegen gegen Laufzeitverlängerung. Auch weil der gesellschaftliche Konflikt über die Atomkraft wieder aufbrechen könnte.
Warum entscheidet die Ampel jetzt nicht?
Nun soll das noch einmal geprüft werden, unter der Voraussetzung, dass noch weniger Gas aus Russland fließt und die Gaspreise am Markt noch weiter steigen. Derzeit werden etwa zehn Prozent des Erdgases für die Stromversorgung verwendet. Die FDP plädiert dafür, diese Menge bis 2024 durch Kernenergie zu ersetzen und die Verwendung des Gases "auf ein Minimum" zu reduzieren.
Außerdem soll beim Stresstest berücksichtigt werden, dass noch weniger Strom aus Frankreich geliefert wird und Bayern mit weniger Kohlekraftwerken und Windenergie spezielle Probleme hat. Wann der zweite Stresstest vorliegt, ist unklar. Ein Ministeriumssprecher sagte am Montag: "Es wird einige Wochen dauern." Er verwies darauf, dass in der Stromproduktion auf Gas nicht komplett verzichtet werden kann. Man versuche aber jetzt, diese durch die Wiederinbetriebnahme von Steinkohle- und im Zweifel auch Braunkohle-Kraftwerke zu ersetzen.
Allerdings sind die Fronten innerhalb der Koalition nicht eindeutig. Umweltministerin Steffi Lemke (Grüne) hatte am Wochenende gesagt, dass eine Laufzeitverlängerung für den Reaktor Isar 2 im Streckbetrieb denkbar sei, sollte Bayern in Schwierigkeiten kommen. Auch Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) ist offen. FDP-Chef Christian Lindner forderte eine AKW-Laufzeitverlängerung bis 2024, was wiederum Grünen-Co-Chefin Ricarda Lang ablehnt. Die CSU kann sich eine Verlängerung zwischen zwei (Markus Söder) und fünf Jahren (Alexander Dobrindt) vorstellen.