Eine Kehrtwende in der Migrationspolitik läutet die Ampel in ihrem Koalitionsvertrag ein. Die Linke applaudiert verhalten, die Union steht den Plänen kritisch gegenüber.
Willkommenskultur statt Bürokratie und Abschreckung: In der Migrationspolitik steht mit der Koalition aus SPD, Grünen und FDP ein echter Paradigmenwechsel bevor.
Was sich ändern soll
- Für Flüchtlinge soll es einfacher werden, nach Deutschland zu kommen, ohne dabei ihr Leben zu riskieren.
- Wer als abgelehnter Asylbewerber Deutsch lernt, seinen Lebensunterhalt durch Arbeit sichert und
- nicht straffällig wird, bekommt neue Möglichkeiten, dauerhaft in Deutschland zu bleiben.
- Der Familiennachzug wird auf alle Flüchtlinge ausgedehnt.
- Der Weg zum deutschen Pass wird kürzer.
Union: "Rückführungsoffensive" ist ein Feigenblatt
Dass von einer "Rückführungsoffensive" die Rede ist, hat wohl die FDP durchgesetzt. Sie musste beim Kapitel "Integration, Migration, Flucht" besonders viele Zugeständnisse machen. Aus Sicht der Union ist diese "Rückführungsoffensive" nicht mehr als ein Feigenblatt.
- Rückführung: Mehr Druck auf Herkunftsländer?
Die EU-Staaten suchen nach neuen Wegen, um die Rückführung von Migranten ohne Bleiberecht zu erleichtern. Im Fokus: Die Herkunftsländer.
"Die Ampel verstärkt die Anreize für illegale Zuwanderung nach Deutschland massiv", sagt CDU-Innenpolitiker Mathias Middelberg. Konkrete Maßnahmen für eine effektivere Durchsetzung der Ausreisepflicht suche man in diesem Koalitionsvertrag vergebens.
NRW-Integrationsminister Joachim Stamp, der das Migrationskapitel für die FDP mit verhandelt hat, hält dagegen. Er verweist auf die Absicht der Koalitionäre, Asylverfahren zu beschleunigen und "praxistaugliche Migrationsabkommen mit den Herkunftsländern" abzuschließen. Außerdem werde der Bund die Länder bei Abschiebungen stärker unterstützen.
Zündstoff für die Ampel?
Einführung von Chancenkarte und Punktesystem
Einfacher werden soll es unter einer Ampel-Regierung auch für Menschen, die ohne Pass oder Personalausweis nach Deutschland kommen. SPD, FDP und Grüne wollen jetzt über eine Änderung im Ausländerrecht "die Klärung der Identität einer Ausländerin oder eines Ausländers um die Möglichkeit, eine Versicherung an Eides statt abzugeben, erweitern".
Auch jenseits von Flucht und Asyl sollen Hürden für Zuwanderer abgebaut werden. Mit der Einführung einer "Chancenkarte" auf Basis eines Punktesystems soll im Einwanderungsrecht eine zweite Säule etabliert werden, um Arbeitskräften zur Jobsuche den gesteuerten Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt zu ermöglichen.
Die Migrationsexpertin der Linksfraktion, Gökay Akbulut, sieht in dem Koalitionsvertrag zwar insgesamt "gute Vorschläge". Sie stört aber, dass bei den geplanten Erleichterungen im Bleiberecht darauf geschaut werde, welche Migranten für Deutschland volkswirtschaftlich nützlich seien.
Das werde der Lebensrealität und den Problemen von Menschen, die jahrelang als Geduldete in Deutschland leben, nicht gerecht. Es sei zudem falsch, dass auch geringere Straftaten hier ein Ausschlusskriterium sein sollen.
Europas Suche nach einer Strategie
AfD kritisiert die Ampelpläne
Die AfD findet die Ampel-Pläne in der Migrations- und Integrationspolitik grauenhaft. Einer von vielen ihrer Kritikpunkte ist die Einsetzung eines Anti-Rassismus-Beauftragten. Ihr innenpolitischer Sprecher Gottfried Curio behauptet: "Als Anti-Deutschenhass-Beauftragte sitzt allein die AfD-Fraktion im Bundestag."
Migrationsexperte lobt neue Migrationspolitik
Migrationsexperte Gerald Knaus begrüßt die Vorhaben in der Migrations- und Flüchtlingspolitik als wichtiges Signal: "Der Koalitionsvertrag ist ein mutiges Dokument, denn viele der Ziele sind sehr konkret gefasst", sagte der Leiter der Europäischen Stabilitätsinitiative der "Rheinischen Post":
"Schafft man es tatsächlich, dass weniger Menschen auf dem Weg nach Europa sterben? Das ist nun nachprüfbar und in zwei Jahren wird man das Ergebnis sehen." Ebenfalls nachprüfbar, so Knaus weiter, sei die Frage, ob man es schafft, "die Pushbacks an Europas Außengrenzen, die derzeit überall erfolgen, einzustellen und trotzdem irreguläre Migration in die EU zu reduzieren".
Knaus: Dokument das "Mut macht"
Auch bei Fragen der legalen Migration, der Aufnahme Geflüchteter durch Resettlement, bei Integrationsperspektiven sowie Abschiebungen von Straftätern und Gefährdern sieht der Migrationsexperte die Ampel-Koalition auf einem guten Weg. Das seien alles sehr konkrete Ziele, bei denen es auch darum gehe, ob an den EU-Außengrenzen wieder Rechtsstaatlichkeit herrscht.
Und ob Deutschland es wirklich schafft, den Paradigmenwechsel von weniger irregulärer hin zu mehr legaler Migration zu bewerkstelligen, ergänzte Knaus: "Es ist ein Dokument, das auch Mut macht. Sollten die Pläne tatsächlich umgesetzt werden, wäre es ein extrem wichtiges Signal nicht nur an andere Europäer, sondern auch an die Welt."
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