Das Verfassungsgericht hat eine wichtige Zeugenbefragung zum Anschlag in Berlin vereitelt. Es ist ein schwarzer Tag - nicht nur für die Aufklärung im Fall Amri. Ein Kommentar.
Mit juristischen Grundsätzen ist es so eine Sache. Denn der Grundsatz kann in der Rechtsanwendung oft ins Gegenteil mutieren. So wie bei der heutigen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Fall Anis Amri.
Mit großen Worten betont das Gericht eingangs die zentrale Bedeutung von Untersuchungsausschüssen bei der Aufdeckung von Missständen. Der Grundsatz laute daher: Eine Aussageverweigerung durch die Regierung käme nur in besonderen Sachverhalten in Betracht. Sie sei nur ausnahmsweise bei zwingenden Gründen möglich, auch bei V-Person-Führern.
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Verfassungsrichter widersprechen sich
Doch in der weiteren Begründung macht das Gericht dann die Ausnahme zur Regel. Obwohl es eine Gefährdung des V-Person-Führers oder der V-Person im Fall Amri für weitgehend ausgeschlossen hält, bejaht es das Recht zur Aussageverweigerung.
Denn es bestünde die Gefahr, dass die V-Person eine Vernehmung des V-Person-Führers als Bruch der Vertraulichkeitszusage empfinde und daraufhin die Zusammenarbeit mit dem Verfassungsschutz beende. Dies sei vor allem im islamistisch-terroristischen Milieu, das von großem Misstrauen und hoher Gewaltbereitschaft geprägt sei, zu erwarten.
Verfassungsschutz bekommt Schutzschirm
Doch V-Personen arbeiten standardmäßig in gefährlichen, von Misstrauen geprägten Milieus. Racheaktionen sind etwa auch bei gewaltbereiten Rechtsextremisten bekannt. Zudem lässt das Bundesverfassungsgericht die einfach geschilderte Sorge um Beendigung der Zusammenarbeit ausreichen, konkrete Indizien hierfür fordert es nicht. Mutmaßungen reichen aus.
So dürfte es in Zukunft ein Leichtes für den Verfassungsschutz sein, U-Ausschüssen wichtige Zeugen vorzuenthalten. Damit wird der Verfassungsschutz mit dem Segen des Bundesverfassungsgerichts vor berechtigten Informationsinteressen der Öffentlichkeit nahezu vollständig abgeschirmt.
Das Parlament verliert die Kontrolle, moniert ein Richter
Dies kritisiert auch Verfassungsrichter Peter Müller. Er hat gegen die Senatsmehrheit abgestimmt. In einem abweichenden Votum übt er harsche Kritik. Sie führe zu einem weitgehenden Ausfall der parlamentarischen Kontrolle des nachrichtendienstlichen Einsatzes von V-Personen und damit zur Entstehung eines nahezu kontrollfreien Raumes.
Zwingende Gründe für eine Aussageverweigerung habe die Bundesregierung nicht einmal vorgebracht. Müller kritisiert zudem überzeugend die These, dass eine Aussage eines V-Person-Führers - unabhängig von deren Inhalt - als Vertrauensbruch bei der V-Person empfunden werde.
Schließlich gehe es beim Einsatz von V-Personen gerade um Erlangung und Verwertung von Erkenntnissen. In Strafverfahren würden V-Personen-Führer regelmäßig selbst vor Gericht in öffentlicher Verhandlung aussagen. Es sei daher nicht plausibel, warum eine Aussage in einem Untersuchungsausschuss unter Geheimhaltebedingungen nicht möglich sei.
Ein schwarzer Tag für die Aufklärung im Fall Anis Amri
Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner heutigen Entscheidung eine wichtige Zeugenbefragung vereitelt. Dass der Terroranschlag vom Breitscheidplatz mit zwölf Toten zur Stützung der verfassungsmäßigen Ordnung priorisierte Aufklärung verlangt, hat das Gericht nicht reflektiert.
Es lässt bloße Vermutungen auf Seiten der Behörde zur Aushöhlung von Auskunftsansprüchen von Abgeordneten genügen. Die Entscheidung markiert damit einen schwarzen Tag - sowohl für die Aufklärung im Fall Anis Amri als auch für die Informationsfreiheit im Allgemeinen.
Felix Zimmermann ist Redakteur in ZDF-Redaktion Recht und Justiz. Dem Autor auf Twitter folgen: @fewizi