Ex-Kanzlerin Merkel im ZDF über Erdogan, AfD und den Osten
Exklusiv
Abwertung ihrer DDR-Biografie:Merkel: "Schlag in die Magengrube"
von Mitri Sirin
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In ihrem ersten TV-Interview nach ihrer Amtszeit spricht Angela Merkel im ZDF unerwartet persönlich über ihre ostdeutsche Identität. Und über Migranten in der deutschen Erzählung.
Das Interview mit Angela Merkel in voller Länge.02.10.2023 | 12:00 min
Viel hat man von Angela Merkel nicht gehört, seitdem sie 2021 als erste Kanzlerin freiwillig aus dem Amt schied.
Unerwartet persönlich äußert sie sich jetzt im ZDF zur schmerzhaften Abwertung ihrer DDR-Biografie. Wir erfahren, warum sie ihre ostdeutsche Identität während der 16-jährigen Kanzlerschaft nicht stärker betonte und weshalb Migranten zur deutschen Erzählung dazu gehören sollten.
Einblicke in 16 Jahre Kanzlerschaft
"Hier oben hat auch mal Margot Honecker gesessen, die DDR-Volksbildungsministerin … und dass ich hier mal lande ..." - Angela Merkel muss selbst lachen, als sie das sagt. In der ZDF-Doku-Reihe "Am Puls" gibt sie dem ZDF ihr erstes TV-Interview seit Amtsausscheiden.
Es geht um Ostdeutsche, um zugewanderte Migranten und ihre Rollen und Perspektiven im wiedervereinigten Deutschland. Beide Gruppen kennen das Gefühl, abgewertet zu werden.
33 Jahre vereint. Aber wie erleben Ostdeutsche und Menschen mit Migrationshintergrund ihr Land? Mitri Sirin reist durch Deutschland und interviewt Alt-Kanzlerin Angela Merkel. Die Doku in voller Länge.03.10.2023 | 53:37 min
Merkel: "Habe mich entkernt gefühlt"
Ein Gefühl, das die langjährige Bundeskanzlerin in ihrer letzten großen und wohl persönlichsten Rede 2021 aufgriff. Merkel zitierte dabei betroffen aus einem Artikel, in dem ihre 35-jährige DDR-Vergangenheit als "Ballast" bezeichnet wurde.
Was hat sie empfunden, als sie diese Zeilen über sich zum ersten Mal las? Bei der Antwort auf diese Frage formen sich ihre Hände, eng beieinander auf dem Schoß, kurz zur weltberühmten Raute.
Merkel weiter: "Und da habe ich natürlich irgendwo mich, ja, also, entkernt gefühlt, weil alles, was mich ausmacht natürlich die Biografie, das Aufwachsen in der DDR war. Und man kann ja nicht von einem Menschen irgendetwas abtrennen. Und insofern war ich einfach baff."
"Habe mich als Kanzlerin aller Deutschen verstanden"
Während ihrer Kanzlerschaft hat Angela Merkel nie viele Interviews gegeben. Und wenn sie eins gab,wurde sie eher als kühl und rational wahrgenommen. In diesem Gespräch gewährt sie einen kleinen Blick in ihre Gefühlswelt. Warum hat sie solche Worte über ostdeutsche Identität nicht schon früher formuliert - Worte, mit denen sich Millionen von Appolda bis Zeitz hätten identifizieren können?
"Weil ich mich immer als Kanzlerin aller Deutschen verstanden habe, vielleicht auch manchmal nicht so getraut habe, aus der DDR-Zeit frank und frei dauernd zu sprechen, weil das wieder so eine Art Stigmatisierung geworden wäre: 'Jetzt kommt sie wieder mit ihrem Ostdeutschland' oder so." Hat die einst mächtigste Frau der Welt soeben etwa eine Unsicherheit eingestanden?
Quelle: dpa
... als Sohn türkischer Christen 1971 in Rheine (NRW) geboren, hat die deutsche Staatsbürgerschaft 1989 nur vier Wochen vor dem Mauerfall erhalten. Von 1999 bis 2005 war er Radiomoderator und Journalist beim MDR in Halle an der Saale für die Bundesländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen, von 2005 bis 2009 bei "rbb aktuell" für Berlin und Brandenburg.
Seit 2009 arbeitet Sirin für das ZDF. Er moderiert die Hauptausgabe der 19-Uhr-Nachrichten und das ZDF Morgenmagazin. Gelegentlich ist er als Reporter für politische Großereignisse oder Dokumentationen unterwegs.
Viele Ostdeutsche fühlen sich als Bürger zweiter Klasse
Obwohl es ein zunehmendes, ostdeutsches Selbstbewusstsein gibt, fühlen sich viele Ostdeutsche immer noch zurückgesetzt.
Ein Gefühl, das sich auch im jüngsten ZDF-Politbarometer widerspiegelt. Der Aussage "Fühlen sie sich 33 nach der Deutschen Einheit noch als Bürger zweiter Klasse?" stimmen 50 Prozent der Ostdeutschen zu - im Vergleich zu einer Befragung 2019 ein Anstieg um vier Prozentpunkte.
Die Doku "Streitrepublik".03.10.2023 | 29:03 min
"Wir schaffen das" ist im Gedächtnis geblieben
Ihre ostdeutsche Identität wurde Merkel nie groß vorgehalten, ihre "Wir schaffen das"-Aussage dagegen sehr. 2015 war das, inmitten der angespannten Flüchtlingssituation.
Schon zuvor, aber erst Recht nach diesen Merkelworten, fühlte sich eine große Mehrheit hier lebender Migranten umarmt und dazugehörig. In einem Deutschland, das sie Jahre und Jahrzehnte als abweisend und stigmatisierend erlebten und in dem sie sich stärker beweisen mussten als die Mehrheitsgesellschaft.
Ostdeutsche und Migranten eint das Empfinden, das ihre Biografien weniger wert sind, dass Umbrüche und Integrationsleistungen zu wenig gesehen werden. Braucht das sich stark verändernde Land eine veränderte Perspektive? Braucht Deutschland eine neue Erzählung, die alle miteinschließt, also auch Zugewanderte? "Ja, selbstverständlich", sagt Merkel.
Kein Verständnis äußerte Merkel daher in diesem Zusammenhang für die Wählerschaft der AfD. Sie verstehe, dass man über manches verärgert sei. Aber sie sei nicht bereit zu akzeptieren, dass man deshalb Ideen und Gedankengut unterstütze, die für sie nichts mit Toleranz zutun hätten.
Viele Kommunen ächzen unter der steigenden Zahl ankommender Asylbewerber. Auch Bundeskanzler Scholz mahnt Handlungsbedarf an. Was zu tun ist, darüber gehen die Meinungen allerdings weit auseinander.02.10.2023 | 1:48 min
Merkel: "Deutschland umfasst alle"
Und weiter: "Ich habe darüber auch mit dem türkischen Präsidenten Erdogan sehr häufig gesprochen. Wer ist verantwortlich zum Beispiel für türkischstämmige Menschen, die hier in der zweiten, dritten Generation wohnen? Und ich habe immer gesagt: Pass auf, deren Bundeskanzlerin bin ich."