Arbeitszeiterfassungspflicht: Fluch oder Segen?

    Arbeitszeiterfassungspflicht:Stechuhr-Urteil: Fluch oder Segen?

    von Laurent Schons
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    Seit dem Grundsatzbeschluss des Bundesarbeitsgerichtes ist Arbeitszeiterfassung Pflicht. Für Unternehmen ist die Umsetzung nicht immer einfach, doch die Vorteile überwiegen.

    Bayern, München:: Ein Mitarbeiter erfasst seine Arbeitszeit digital an einem Terminal.
    Ein Mitarbeiter erfasst seine Arbeitszeit - das ist nun Pflicht.
    Quelle: Sina Schuldt/dpa

    Das sogenannte "Stechuhr-Urteil" des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) kam 2019 wie ein Paukenschlag. Die Richter nahmen damit alle EU-Länder in die Pflicht, eine objektive, verlässliche und zugängliche Arbeitszeiterfassung einzuführen. Die Aufregung war damals groß, doch es passierte nichts - jahrelang. Eine Umsetzung in nationales Recht blieb die Bundesregierung seitdem schuldig.
    Im September 2022 preschte dann das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt mit einem Grundsatzbeschluss vor und entschied höchstrichterlich: Deutsche Arbeitgeber sind zur Arbeitszeiterfassung verpflichtet. Der Beschluss soll vor allem Arbeitnehmer schützen: "Zeiterfassung ist auch Schutz vor Fremdausbeutung und Selbstausbeutung", sagte BAG-Präsidentin Inken Gallner.

    Arbeitsrechtler: Kritik an Arbeitszeiterfassung ist unzutreffend

    Aus den Reihen der Arbeitnehmer- und Unternehmensverbände kam Kritik an dem Beschluss: Die Zeiterfassung sei ein Rückschritt und stelle die "Flexibilität in Form von Vertrauensarbeitszeit, Homeoffice oder mobilem Arbeiten in Frage", sagte der Geschäftsführer des AGA-Unternehmensverbandes,Volker Tschirch.
    Laut Arbeitsrechtler Professor Matthias Jacobs ist die Kritik unzutreffend, "weil es auch bei Vertrauensarbeitszeit bisher schon so war, dass die Vorgaben des Arbeitszeitgesetzes eingehalten werden mussten." Neu sei demnach nur die Pflicht zur Erfassung.

    Keine Probleme bei Online-Versandriese Otto

    Beim Onlinehandel-Riesen Otto haben sie die Arbeitszeiterfassung schon vor Jahren eingeführt. Die Rückmeldungen seien nahezu durchweg positiv, sagt Personalchefin Nadja Stuhlmann. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter registrieren Beginn und Ende der Arbeitszeit mit ihrer Mitarbeiterkarte.
    Auch Homeoffice sei kein Problem - dafür gebe es eine App, wie Stuhlmann erklärt. Sie sieht in dem System einen großen Vorteil: "Wir haben eine Transparenz für beide Seiten."
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    Holpriger Start und positive Bilanz

    Auch in der Radiologischen Allianz in Hamburg nutzen sie seit einem Jahr ein Zeiterfassungssystem. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter buchen Arbeitsbeginn und -ende mit einem Transponder ein. Den Rest erledigt eine Software.
    Die Einführung des Systems habe sie als turbulent erlebt, sagt Personalchefin Silvia Anthony. Anfangs habe es bei der technischen Umsetzung noch geknirscht. Außerdem sei nicht jeder gleich von den Vorteilen überzeugt gewesen - manche hätten sich durch das neue System eher kontrolliert gefühlt. Trotz des holprigen Starts zieht der stellvertretende Geschäftsführer Martin Simon eine positive Bilanz:

    Arbeitszeiterfassung ist eine gute Sache, weil sie dem Schutze der Mitarbeiter dient.

    Martin Simon, stellvertretende Geschäftsführer Radiologische Allianz Hamburg

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    Erfassung per App selbst bei Startups möglich

    Die Erfassung der Arbeitszeit schafft also Transparenz für beide Seiten. Die Rückkehr der Stechuhr wie zu Zeiten der Industrialisierung muss wohl keiner befürchten, denn Apps, Software und Co. erleichtern die Aufgabe - auch wenn die Einführung neuer Systeme anfangs gewöhnungsbedürftig sein kann.
    Selbst im dynamischen Arbeitsumfeld der Startup-Szene dürfte eine Zeiterfassung daher gut machbar sein, erklärt die Co-Gründerin des Hamburger Startups Recyclehero, Nadine Herbrich. Denn auch bei vielen kürzeren Arbeitsperioden innerhalb von 24 Stunden sei eine Erfassung per App gut möglich.
    Während die Zeiterfassung in einigen Firmen bereits Standard ist, müssen andere noch das richtige System für einen reibungslosen Ablauf finden, doch Arbeitsrechtler Jacobs ist sich sicher:

    In fünf Jahren wird es für uns selbstverständlich sein, dass wir Arbeitszeit erfassen.

    Prof. Matthias Jacobs, Arbeitsrechtler

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