Ein Jahr hält der Waffenstillstand in Syrien bereits, doch die sich weiter verschlechternde Versorgungslage könnte für das Assad-Regime gefährlicher werden als neue Kämpfe.
Das Assad-Regime hält am Kriegszustand fest, damit die Bevölkerung keine Energie hat, gegen die schlechte Versorgungslage im Land zu protestieren, meint Syrien-Experte Gerlach.
Noch im Januar 2020 hegte das Assad-Regime Hoffnungen, mit einem militärischen Paukenschlag die Provinz Idlib als letztes verbliebenes Bollwerk der Rebellen erobern zu können. In den Wochen und Monaten zuvor nahm Assads Armee mit tatkräftiger Unterstützung Russlands Stadt um Stadt ein. Es schien nur eine Frage der Zeit, bis ganz Idlib fällt.
Dann brach die Corona-Pandemie aus und die Schutzmächte Russland und Türkei drängten die von ihnen unterstützten Kriegsparteien zu einem Waffenstillstand, der tatsächlich bis heute hält.
Korruption in Syrien blüht auf - Kritik an der Regierung
Doch Assads Staatsverwaltung war und ist der Friedenszeit nicht gewachsen: Die Wirtschaft liegt am Boden, die syrische Lira ist aufgrund einer Hyperinflation nahezu wertlos, was Lebensmittel für normale Menschen unbezahlbar macht. Weiter aufgeblüht hingegen ist die Korruption. Das Gesundheitswesen, das nach Jahren des Krieges und der Flucht vieler Ärzte ins Ausland bereits wankte, wurde durch die Corona-Pandemie vollends überfordert.
Nach einem halben Jahr Waffenruhe und wirtschaftlichem Niedergang kam es in Assad-Gebieten wieder zu Protesten, zu öffentlicher Kritik an der Regierung: "Syrien gehört uns, nicht dem Assad-Clan" – solche Parolen waren so lautstark, dass Präsident Assad dem Druck nachgab und Premierminister Imad Chamis entließ – ohne Angaben von Gründen.
Ablenken von wirklichen Problemen im Land
"Das syrische Regime weiß genau: Jedes Mal, wenn deeskaliert wird, wenn die Waffen an den Fronten schweigen, dann hört man den Unmut der Bevölkerung", analysiert der Syrien-Experte Daniel Gerlach, "wenn es Krieg gibt, werden die Reihen geschlossen."
Ein Großteil der Syrer leidet Hunger. Die zerbombten Städte liegen noch in Trümmern und zu einem Wiederaufbau ist die von Nepotismus und Korruption durchzogene Verwaltung kaum fähig, zum Kriegsführen hingegen schon.
Krieg als Nährboden für Dschihadisten
Eine Fortsetzung des Krieges hat unmittelbare Folgen für Europa. Das Flüchtlingsproblem wird sich wieder deutlich verschärfen und damit die Konfliktlinie mit der Türkei. Der Krieg wird weitere Zerstörung des Landes nach sich ziehen, bis womöglich auch das letzte an ziviler und staatlicher Infrastruktur zerstört ist.
"Und dann wird sich Syrien – unabhängig von dem, der es regiert - in ein nicht mehr kontrollierbares Gebiet entwickeln", befürchtet Gerlach. Ein solch gefallener Staat, der seinen Bürgern keine Perspektive und Zukunft bieten kann, ist perfekter Nährboden für dschihadistische Bewegungen. Diese Gruppen besitzen Ressourcen und Strukturen, mit denen sie das Vakuum, das ein funktionsunfähiger Staat hinterlässt, füllen werden.
Brüchige Waffenruhe ist Russland und Türkei zu verdanken
Welche Gefahr eine territoriale Ausbreitung von Terrorgruppen wie den "Islamischen Staat" in sich trägt, ist in allen europäischen Außenministerien bekannt. Das macht es umso erstaunlicher, warum die EU nicht frühzeitig mit einer einheitlichen Linie auf die dschihadistischen Bedrohungen in einem Mittelmeeranrainerstaat wie Syrien reagiert.
"Man geht davon aus, dass Russland, Iran, die Türkei, gewissermaßen auch Israel immer wieder mit militärischen Einsätzen in Syrien ihre Interessen durchsetzen", sagt Nahost-Experte Daniel Gerlach, "aber, dass die europäischen Staaten hier eigentlich nichts verloren haben. Das ist eine gefährliche Situation." Und eine Situation, in der sich die EU in eine Zuschauerrolle manövriert hat: Nur dem Einfluss der Türkei und Russlands ist es zu verdanken, dass die brüchige Waffenruhe solange angedauert hat.
Kaum Anlass für Hoffnung auf Frieden
Doch die Abwesenheit von Krieg ist noch lange kein Frieden. Schon gar nicht, wenn im Schatten des Waffenstillstands eine dschihadistische Bedrohung erwächst, gerade in den von Rebellen kontrollierten Gebieten.
Im kommenden Mai will sich Assad wieder zum Präsidenten aller Syrer wählen lassen und "das syrische Regime hat gelernt, dass es den Krieg führen kann," ist Gerlach überzeugt, "aber den Frieden kaum gewinnen." Auch im zehnten Jahr des Syrienkonflikts gibt es kaum Anlass für Hoffnung auf eine friedvolle Zukunft.
Über dieses Thema berichtet das auslandsjournal am Mittwoch, 10. März 2021, ab 22:15 Uhr im ZDF.