Die Asylstatistik für das Jahr 2021 zeigt, wie Deutschland und die Europäische Union Asylsuchende immer häufiger im rechtlichen Niemandsland hängen lassen.
2021 gab es so viele Asylanträge wie seit 2017 nicht mehr: Das geht aus am Mittwoch neu veröffentlichten Zahlen des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hervor.
Doch der Eindruck einer drastischen Zunahme trügt. Ein Blick in die Daten zeigt, dass weniger Menschen neu nach Deutschland kommen, als es den Anschein hat. Vor allem sind es aber weniger Anträge, als die dramatische Migrationslage an den europäischen Grenzen eigentlich bedeuten würde.
Das sind die Asylzahlen für 2021
190.816 Asylanträge hat das BAMF im vergangenen Jahr verzeichnet. Im Vorjahr waren es auch wegen der Einschränkungen in Folge der Corona-Pandemie nur 122.170 Anträge gewesen. Im Flucht-Rekordjahr 2016 waren es 745.545 Anträge.
Mit 42.583 gab es 2021 vergleichsweise viele sogenannte Folgeanträge. Die können Bewerber unter bestimmten Voraussetzungen stellen, wenn ein früherer Antrag abgelehnt wurde. Diese Menschen waren also bereits in Deutschland, oft ziehen sich ihre Verfahren seit langer Zeit hin.
Doch auch die verbleibenden Erstanträge stehen nicht immer für Menschen, die neu aus dem Ausland nach Deutschland kommen. 17,5 Prozent dieser neuen Asylanträge wurden für Kinder gestellt, die im letzten Jahr hier in Deutschland geboren wurden.
Bekommt eine Familie mit laufendem Asylverfahren ein Kind, muss auch für dieses Kind ein Verfahren gestartet werden. Es fließt in die Statistik ein, obwohl es nie nach Deutschland eingereist ist. Insgesamt waren 49,4 Prozent der Erstantragsteller minderjährig, 40,9 Prozent Frauen.
Illegale "Pushbacks" halten Flüchtende fern
"Die Asylzahlen wirken in der deutschen Öffentlichkeit hoch, sie sind aber zu relativieren" sagt Günter Burkhardt, Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl. "Die Zahlen sind niedrig vor dem Hintergrund, dass die Konflikte in Syrien oder Afghanistan nicht zu Ende sind."
Laut UNHCR steigt die Zahl derer, die weltweit auf der Flucht sind, seit Jahren an. Burkhardt macht politische Maßnahmen dafür verantwortlich, dass die Zahl an Asylanträgen in Deutschland und Europa das nur begrenzt widerspiegelt.
Er verweist auf die am Mittwoch zum "Unwort des Jahres" gekürten "Pushbacks" etwa an der Grenze zwischen Polen und Belarus. "Es wurden zu Tausenden Menschen illegal an der Grenze zurückgeschickt in eine rechtlose Situation in Belarus. Das ist erbärmlich."
"EU-Staaten verabschieden sich von Menschenrechten"
Deutschland sei abgetaucht und habe Polen auf Kosten der Schutzbedürftigen unterstützt, sagt Burkhardt. Es sei nicht geprüft worden, ob dort an der Grenze nicht auch anspruchsberechtigte Menschen seien, die nur deshalb diesen Weg gehen müssten, weil legale Wege versperrt seien. "Wir brauchen ein Ende der illegalen Pushback-Praxis an den Grenzen Europas."
Auch auf dem Mittelmeer sind "Pushbacks" von Booten mit Migranten durch Grenzschützer dokumentiert. Nach Angaben der Seenotrettungsorganisation Mission Lifeline starben 2021 mindestens 2.026 Menschen bei der Flucht nach Europa über das Mittelmeer.
Anträge werden oft weitergereicht anstatt entschieden
Eindeutig abgelehnt wurden im vergangenen Jahr nur 21,4 Prozent aller Anträge. Deutlich häufiger, nämlich in 36,7 Prozent der Fälle, gab es, was in Behördensprache eine "sonstige Erledigung" ist. Das heißt, entweder wurden Anträge zurückgenommen oder die Bundesrepublik verwies den Fall an ein anderes EU-Land, wo gemäß des Dublin-Verfahrens ein Anspruch auf Asyl geprüft werden soll.
Das liegt daran, dass Menschen meist über Drittstaaten nach Europa und dann weiter nach Deutschland einreisen. "Betroffene können aber oft nicht zurückgeschickt werden. Das verhindern die Gerichte angesichts der Unwilligkeit und Unfähigkeit von Staaten wie Griechenland, Polen oder Ungarn, Menschen auf Dauer aufzunehmen und eine Lebensperspektive zu geben. Sie leben dort auf der Straße", berichtet Burkhardt.
Die Folge:
Dieser gestiegene Anteil der sonstigen Erledigungen sei "erschreckend", so Burkhardt.
Die Europäische Union braucht dringend ein Konzept, sagt Migrationsforscher Gerald Knaus zur Lage der Flüchtlinge an der Grenze zwischen Polen und Belarus. Auf Gewalt zu setzen, führe zu einer Katastrophe.
Junge afghanische Männer besonders betroffen
Besonders betroffen seien junge afghanische Männer, deren Status vom Bundesamt einfach nicht entschieden werde, sagt Burkhardt. Das Innenministerium führt als Begründung an, dass Entscheidungen zu Afghanistan im Spätsommer und Herbst wegen der veränderten politischen Lage zurückgestellt wurden.
Laut BAMF-Statistik gingen 2021 fast 32.000 Asylanträge von Afghaninnen und Afghanen ein. Das Land liegt hinter Syrien auf Platz zwei. Vom Bundesamt entschieden wurden im gleichen Zeitraum aber nur rund 10.000 Anträge von Menschen aus Afghanistan.
Trotz der dramatischen Lage im Land wurde nur in 42,9 Prozent ein Schutzstatus anerkannt. Noch im August, wenige Wochen vor dem Fall Kabuls an die Taliban, wollte das Innenministerium einen Abschiebeflug nach Afghanistan durchführen.
Aufgaben für die neue Bundesregierung
Die alte Bundesregierung habe "die Fiktion aufrechterhalten wollen, man könne Tausende wider besseren Wissens nach Griechenland zurückschicken. Man wollte einen europäischen Verschiebebahnhof stattfinden lassen, wo ein Staat versucht, dem anderen die Verantwortung zuzuschieben", beklagt Burkhardt.
Die neue Regierung müsse dringend Korrekturen beim BAMF vornehmen, damit die Anträge insbesondere von jungen Afghanen schneller bearbeitet würden, so Burkhardt. "Ich erwarte von unserer neuen Regierung, dass sie diesen Zustand der Rechtlosigkeit nicht mehr länger toleriert."