Russische Atomwaffen: Wie wahrscheinlich ist ein Einsatz?
Interview
Moskau militärisch unter Druck:Wird Putin Russlands Atomwaffen einsetzen?
18.09.2022 | 16:37
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US-Präsident Biden warnt Russland vor dem Einsatz von Atomwaffen. Steigt die Gefahr wegen Moskaus Verlusten im Ukraine-Krieg? Atomwaffen-Experte Frank Sauer schätzt die Lage ein.
Wie realistisch ist es, dass Russland die nukleare Eskalation sucht? Interkontinentalraketen bei einer Militärparade in Moskau. (Archivbild)
Quelle: Alexander Zemlianichenko/AP/dpa
US-Präsident Joe Biden hat Kreml-Chef Wladimir Putin nach den russischen Verlusten im Ukraine-Krieg vor dem Einsatz von Chemie- oder taktischen Atomwaffen gewarnt:
Tun Sie es nicht, tun Sie es nicht, tun Sie es nicht.
Joe Biden im Sender CBS
Warum warnt Biden ausgerechnet jetzt so eindringlich vor diesem Szenario? Könnte ein in die Ecke gedrängtes russisches Militär zu diesen Waffen greifen? Der Atomwaffen-Experte Dr. Frank Sauer von der Universität der Bundeswehr München mit einer Einschätzung.
Frank Sauer
Quelle: Bundeswehr Universität München
... ist Politikwissenschaftler an der Universität der Bundeswehr München. Seine Forschungsschwerpunkte sind Atomwaffen, nukleare Abschreckung und der Einsatz Künstlicher Intelligenz im Militär. Gemeinsam mit anderen Sicherheitsexpert*innen diskutiert Sauer im Podcast "Sicherheitshalber" die aktuellen Entwicklungen in der deutschen Sicherheits- und Verteidigungspolitik sowie die Lage in Europa und der Welt.
ZDFheute: Herr Sauer, Russland müsste den Einsatz von Atomwaffen zunächst vorbereiten. Die fraglichen Militär-Standorte werden unter anderem von den USA genau beobachtet. Halten Sie es für möglich, dass man hier Aktivitäten festgestellt hat - und das jetzt der Anlass für Bidens Warnung ist?
Dr. Frank Sauer: Für uns Außenstehende ist das nicht abschließend zu beurteilen. Die US-Geheimdienste haben sich in diesem Krieg allerdings als sehr gut informiert erwiesen. Zu Beginn kannten sie sogar präzise das russische Einmarschdatum. Um Putin in letzter Minute davon abzubringen, hat man dies im Februar publik gemacht - ein ungewöhnlicher Vorgang.
Nach der Wiederholung eines solchen Schachzugs klingen Bidens aktuelle Äußerungen nicht. Ihm wurde nach den jüngsten ukrainischen Erfolgen einfach die Frage gestellt, ob ein in Bedrängnis geratener Putin zu chemischen oder nuklearen Waffen greifen könnte. Und ich tendiere zu der Interpretation, dass er nur diese Frage beantwortet hat - mit einer Warnung an Putin.
ZDFheute: Biden warnt explizit vor dem Einsatz taktischer Nuklearwaffen. Wie müssen sich unsere Leser solche Waffensysteme und deren Wirkung vorstellen?
Sauer: Bei taktischen Nuklearwaffen denken viele an Nuklearwaffen mit geringerer Sprengkraft. Das ist etwas irreführend. Die Bezeichnung taktisch ergibt sich eigentlich aus dem Einsatzzweck. Taktische Waffen sollen begrenzte Effekte auf dem Gefechtsfeld haben. Strategische Interkontinentalwaffen sollen Kriege abschrecken oder beenden. Reichweite und Zerstörungskraft sind nur die Ableitungen daraus.
Konkret heißt das aber, dass die Sprengkraft taktischer Gefechtsfeldwaffen immer noch ein Vielfaches der Bomben wäre, die 1945 Hiroshima und Nagasaki in Schutt und Asche gelegt haben.
Der Einsatz auch nur einer solchen Waffe - etwa gegen die ukrainischen Streitkräfte oder auch nur zu Demonstrationszwecken - wäre eine historische Zäsur, ein gezielter Tabubruch und Putins endgültiger Abschied von der zivilisierten Welt.
Dr. Frank Sauer, Universität der Bundeswehr München
Die Auswirkungen wären im Detail von vielen Kontextfaktoren abhängig, aber zweifelsohne katastrophal für Menschen und Umwelt.
ZDFheute: Der Ukraine-Krieg hat gezeigt, dass die russischen Streitkräfte in einem viel schlechteren Zustand sind als angenommen. Trifft das auch auf die nuklearen Fähigkeiten zu?
Sauer: Ich hoffe nicht. Denn das würde das ohnehin bestehende Risiko von Unfällen oder einem nicht-autorisierten Einsatz erhöhen.
ZDFheute: Steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Russland Atomwaffen einsetzt, je mehr es in der Ukraine unter Druck gerät?
Sauer: In der Frage ist die Expertengemeinschaft gespalten. Russlands Doktrin ist in dieser Frage nicht ganz eindeutig. Das ist natürlich Absicht. Man spricht hier von "strategischer Ambiguität". Wir im Westen sollen uns fragen, ob diese Eskalation wirklich droht.
Nach meiner Kenntnis und Interpretation der Doktrin ist ein begrenzter Einsatz von Nuklearwaffen für Russland sehr wohl Teil einer eskalierenden Kriegsführung.
Dr. Frank Sauer, Universität der Bundeswehr München
Ihre Funktion ist in Russland also nicht nur auf strategische Abschreckung beschränkt. Insofern ist das Risiko der Eskalation in der Ukraine gegeben. Zugleich ist allerdings nicht gesichert, dass Putin dieser Doktrin auch buchstabengetreu folgt. Denn er kann natürlich die Kosten antizipieren. Der Westen würde seine Gangart nochmals massiv verschärfen, und auch China und Indien dürften von Russland abrücken. Beide haben kein Interesse an einer global sinkenden nuklearen Hemmschwelle.
Aktuell wäre für Putin mit nuklearer Eskalation eigentlich nichts gewonnen.
Dr. Frank Sauer, Universität der Bundeswehr München
Wir brauchen daher nicht in Angststarre zu verfallen, sondern müssen das Risiko weiterhin genau im Auge behalten und die Signale erkennen, die auf Eskalation hindeuten.
ZDFheute: Im Falle eines russischen Atomwaffeneinsatzes - was würde dann passieren? Hat die Nato schon fertige Pläne in der Schublade?
Sauer: Ich gehe fest davon aus, dass es Pläne für verschiedene Optionen gibt - politisch sowie militärisch, und zwar konventionell und nuklear. Ich wünsche mir dabei nicht nur, ich erwarte sogar, dass die Nato den Einsatz einer russischen Gefechtsfeldwaffe nicht umgehend nuklear beantworten würde.
Zum einen ist es militärisch gar nicht nötig. Zum anderen würde der Westen damit die politische Chance vertun, Russland global vollends zu isolieren. Das Aufrechterhalten des nuklearen Tabus und Brandmarken des Tabubrechers ist hier eindeutig die politisch klügere Antwort. Und ich gehe aktuell, auch im Lichte der Äußerungen anderer Expert*innen und ehemaliger US-Militärs sowie dem bisherigen Agieren Bidens, davon aus, dass dieser Weg eingeschlagen würde.
Die Fragen stellte Nils Metzger.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.