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Interview

Historiker zu Atomkriegsgefahr : "Putin ist noch längst nicht all-in gegangen"

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Der Historiker Bernd Greiner wirft der Nato im Ukraine-Krieg Geschichtsvergessenheit vor und warnt vor einer Eskalation aus Versehen. Putins Atomdrohungen seien nicht nur Bluff.

Eine mit Nuklearsprengköpfen bestückbare Interkontinentalrakete vom Typ Topol in Moskau
Wie ernst meint es Wladimir Putin mit seinen Atomdrohungen? Eine russische Interkontinentalrakete in Moskau. (Archivbild)
Quelle: YNA/dpa

ZDFheute: Verglichen mit der Zeit des Kalten Kriegs, ist die Gefahr eines Atomkriegs heute größer oder kleiner?

Prof. Bernd Greiner: Sie ist auf keinen Fall größer, aber sie ist gegeben. Es wäre fahrlässig, das auszuschließen. Genauso fahrlässig ist es, sich darauf zurückzuziehen, dass alle Beteiligten rationale Akteure seien; dass sie von der verheerenden Wirkung von Atomwaffen überzeugt sind und diesen Schritt deshalb nicht gehen würden. Schon am Ende der Kuba-Krise haben US-Präsident John F. Kennedy und sein Verteidigungsminister Robert McNamara gemahnt: Bitte lasst uns uns von der Vorstellung eines rationalen Krisenmanagements verabschieden.

Wenn ein bestimmter Punkt überschritten ist, dann ist es eine Frage von Glück. Ich fürchte, dass wir uns allmählich in diese Grauzone hineinbewegen.
Prof. Bernd Greiner, Historiker

Je länger dieser Krieg dauert, desto mehr treibt man Putin in die Ecke. Je massiver die westlichen Waffenlieferungen werden, desto größer ist die Gefahr, dass er die Nato als Kriegspartei begreift. Dass er taktische Atomwaffen einsetzt, um Angriffe mit westlichen Waffen auf die annektierten Gebiete abzuwehren.

Es ist ein Balanceakt - den Krieg in der Ukraine beenden und sich gleichzeitig auf das Schlimmste vorbereiten, den Einsatz von Atomwaffen durch Putin.

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2 min
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ZDFheute: Wladimir Putin setzt seit Beginn des Konfliktes immer wieder auf die bewusste Drohung mit Atomwaffen. Er weiß genau, was er mit diesen Gesten auslöst. Warum sollten wir ihn damit durchkommen lassen?

Greiner: Putin hat sehr genau begriffen, worin die Politik der Abschreckung besteht. Abschreckung ist nichts anderes als ein Spiel mit der Angst. Wenn man aber mit diesen Instrumenten hantiert und wenn man diese Drohungen zeitgleich mit konventioneller Eskalation begleitet, dann kann niemand sagen, wann eine rote Linie überschritten wird, ab der die Entwicklung eigendynamisch verläuft. Dann reichen Missverständnisse.

Ich halte es für grundfalsch, Putins Spiel nur als Bluff zu verstehen.
Prof. Bernd Greiner, Historiker

ZDFheute: Russlands Atomdrohungen kommen seit Monaten. Nutzen sie sich irgendwann ab?

Greiner: Ich sehe die Gefahr, dass man innerhalb der Nato denkt: Hunde, die bellen, beißen nicht. Dass man die Drohungen als Schwäche versteht und diese Schwäche als Gelegenheit ausnutzt, den Krieg mit konventionellen Mitteln zu eskalieren. Das könnte zu einem Bumerang werden.

ZDFheute: Aber die Eskalation in diesem Angriffskrieg geht doch von Russland aus.

Greiner: Es ist völlig klar, wer den Krieg angefangen und wer die Eskalationsdominanz hat. Wenn Putin will, schickt er Raketen, Marschflugkörper und was auch immer er in seinem Repertoire hat auf Großstädte in der Ukraine. Das wird er noch mehr tun, wenn er den Eindruck bekommt, dass er seine Minimalziele nicht erreichen kann. Wenn wir einen Ausweg aus diesem Schlamassel wollen, dann sind beide Seiten gezwungen, von ihren Maximalforderungen Abstand zu nehmen – wie in der Kuba-Krise. Man muss diplomatisch überlegen, welches Modell für alle Beteiligten halbwegs erträglich wäre.

ZDFheute: Es ist doch eine grundsätzlich andere Situation als das Ringen zweier Supermächte im Kalten Krieg. Ein größeres Land überfällt ein kleineres, um seinen nationalistischen Ideologien Raum zu verschaffen.

Greiner: Ob der Westen will oder nicht – vor dem Hintergrund der russischen Eskalationsdominanz wird er nicht darumkommen können, eine Vereinbarung zu treffen, die den Status quo vom 24. Februar zur Ausgangslage nimmt.

Die Vorstellung, die Krim oder den Donbass wiederzubekommen, kann man vergessen. Das ist militärisch nicht zu erreichen.
Prof. Bernd Greiner, Historiker

Dieses Faustpfand wird Putin um den Preis seines Überlebens nicht hergeben. Ich kann nicht sehen, dass das militärische Reservoir Russlands so erschöpft wäre, dass Putin nicht die Möglichkeit hätte, der Ukraine noch viel mehr Leid zuzufügen.

ZDFheute: Die klaren militärischen Fortschritte der Ukraine in den vergangenen ein bis zwei Monaten sprechen eine andere Sprache.

Greiner: Putin ist noch längst nicht all-in gegangen. Wir dürfen uns die militärischen Ressourcen Russlands nicht kleinreden. Situative Erfolge der Ukraine hin oder her.

Der ukrainischen Stadt Cherson drohen Kämpfe, die Bewohner werden aufgefordert, zu fliehen. Putin verhängt das Kriegsrecht in den besetzten Gebieten in der Ukraine.

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2 min
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ZDFheute: Das klingt ähnlich wie die Propaganda-Argumente, Durchhalte-Parolen russischer Nationalisten, die sagen: "Jetzt werden wir erst richtig losschlagen." Bislang hat man davon wenig gesehen. Die militärischen Fähigkeiten Russlands sind viel beschränkter als zunächst angenommen.

Greiner: Wenn russische Nationalisten das behaupten, ist mir das vollkommen egal. Ich schließe mich hier der Einschätzung westlicher Militärexperten, der CIA und der NSA an. Wenn Putin, wie ich glaube, ein gelehriger Schüler Chruschtschows ist, dann setzt er auf die langsame Ermattung der Gegenseite – militärisch wie psychologisch. Er wollte das nicht mit einem Big Bang lösen.

ZDFheute: Aber hatte er zu Beginn des Krieges nicht genau auf diesen Big Bang gesetzt und erwartet, dass die Ukraine schnell zusammenbricht?

Greiner: Das kann man so sehen, aber ich tendiere zu einer anderen Einschätzung. Er will, ähnlich wie Chruschtschow, der Welt zeigen, dass der Westen seine Schutzversprechen nicht einlösen und dass Russland seinen Willen durchsetzen kann. Putin hat die Mittel und Möglichkeiten, noch eine Schippe draufzulegen. Man sollte sich nicht dem Irrglauben hingeben, ein paar Leopard-Panzer würden daran etwas ändern. Im Gegenteil.

Wenn solche Waffen mit einer Reichweite weit über die russische Grenze hinaus geliefert werden, dann hat man möglicherweise den ultimativen Casus Belli.
Prof. Bernd Greiner, Historiker

Die Nato will den Druck auf Russland maximal erhöhen, so die US-Nato-Botschafterin Smith. Damit die Ukraine irgendwann selbst die Konditionen bestimmen könne für Verhandlungen.

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9 min
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ZDFheute: Die Ukraine hat zu keinem Zeitpunkt signalisiert, den Krieg über die russische Grenze hinaus tragen zu wollen.

Greiner: Es geht nicht darum, dass Selenskyj einen Angriff auf russisches Terrain befiehlt. So funktioniert das nicht. Es sind Fehler und Missverständnisse, die beim Einsatz derartiger Waffen überproportional zum Tragen kommen. Während der Kuba-Krise hat ein lokaler russischer Kommandeur gegen den expliziten Befehl aus Moskau ein amerikanisches U2-Aufklärungsflugzeug abgeschossen. Nicht aus Absicht, sondern weil irgendwo in der Befehlskette Fehler gemacht wurden. Das ist das Wesen von Kriegen.

Kennedy hat schon gesagt: 'Ich kann anordnen, was ich will. Am Ende der Befehlskette ist immer irgendein Hurensohn, der nicht mitbekommt, was Sache ist.'
Prof. Bernd Greiner, Historiker

Es gibt eine Geschichtsvergessenheit vieler, insbesondere bei den Grünen, die so tun, als wäre Krieg ein Schachspiel. Das ist bar jeder historischen Kenntnis.

Das Interview führte Nils Metzger.

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24.09.2023
von Alica Jung
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