Drei Tage lang will sich die Linke in Erfurt programmatisch und personell neu aufstellen. Es geht für die angeschlagene Partei um alles. Ausgang: offen. Sprengkraft: groß.
Wenn die Delegierten, Abgeordneten, Kandidatinnen und Kandidaten der Linken am Freitag in Erfurt zum dreitägigen Wahl- und Programmparteitag zusammenkommen, weiß niemand, wie dieses Wochenende für die Partei ausgeht - wer am Ende an ihrer Spitze steht - und ob das gelingt, was alle als "Erneuerung" beschwören.
Selbst linke Spitzenpolitiker, die sonst immer Abstimmungsverhalten vorhersagen können, wagen keine Prognose. Es ist eine hochnervöse Stimmung. Der parlamentarische Geschäftsführer Jan Korte sagt gegenüber ZDFheute:
Aber auch das werde man lösen, sagt er. "Und dazu muss dieser Parteitag Entscheidungen treffen."
Sprengpotential Wagenknecht
Schon am ersten Tag - wenn es um die programmatische Erneuerung geht - hat der Parteitag das Potential sich zu zerlegen. Vor allem beim Thema Außenpolitik. Zum Leitantrag "Keine Aufrüstung, kein Krieg. Für eine neue Friedensordnung und internationale Solidarität" liegt ein Änderungsantrag vor, den unter anderem Sahra Wagenknecht eingebracht hat.
In der anfänglichen Fassung, die kurz vor dem Parteitag bekannt wurde, sollten Solidaritätsbekundungen mit der Ukraine gestrichen werden. Die Kritik war massiv, Wagenknecht ließ ihren Antrag nochmal um die Solidaritätspassage ergänzen. Weiterhin festhalten will der Änderungsantrag aber die Mitschuld des Westens am Ukraine-Krieg - eine scharfe Verurteilung des "verbrecherischen Angriffskriegs Russlands" wiederum soll aus dem Leitantrag des Parteivorstands getilgt werden.
Aus der Partei ist zu hören, dass das Abstimmungsergebnis als Stimmungstest für den innerparteilichen Machtkampf mit dem Wagenknecht-Lager gesehen wird. Eine Stimmung, die für den weiteren Verlauf des Parteitags entscheidend ist. Im Vorfeld warf der sonst eher zurückhaltende Thüringer Abgeordnete Ralph Lenkert Wagenknecht auf Twitter vor, "für Klicks und Drang nach Öffentlichkeit […] die letzte Partei zu zerstören, die noch für Frieden und die sozial Ausgegrenzten eintritt."
Lorenz Gösta Beutin, der als stellvertretender Parteivorsitzender kandidiert, wird noch deutlicher: "Wagenknecht fälscht, manipuliert bewusst. Ist allzeit bereit, Genoss*innen oder die gesamte Linke vors Auto zu stoßen."
Wagenknecht selbst hat ihre Teilnahme in Erfurt kurzfristig abgesagt - aus gesundheitlichen Grünen, wie es heißt, es besteht der Verdacht einer Corona-Infektion.
Sprengpotential Sexismus
Auslöser für den Rücktritt von Susanne Hennig-Wellsow am 20. April 2022 - und damit auch für die vorgezogene Neuwahl der Parteispitze in Erfurt - ist der Sexismus-Skandal, der die Linke nachhaltig erschüttert. Dass sich eine Partei, die sich als explizit feministisch versteht, fragen lassen muss, ob sie strukturellen Sexismus duldet, rüttelt an den Grundfesten.
Dass die Generaldebatte zu "LinkeMetoo" und Sexismus erst am Freitagabend um 20 Uhr angesetzt ist, stößt auf Kritik, vor allem im Jugenverband solid. Der Jugendverband wird morgen als erstes in der Generaldebatte das Wort ergreifen - und Zitate von Betroffenen vorlesen. Auch um beschuldigte Parteifunktionäre soll es gehen, allerdings ohne Namen direkt zu nennen.
Sprengpotential Parteispitze
Wer die Linke in Zukunft führt - das entscheidet sich am Samstag ab 13:30 Uhr und hat vielleicht die größte Sprengkraft für diesen Parteitag. Vier Kandidatinnen und Kandidaten werden dabei die besten Chancen für einen Platz an der Doppelspitze eingeräumt. Bis auf Janine Wissler, die bisherige Parteichefin gehören sie alle nicht zur ersten Reihe dieser Partei, die auf Bundesebene ohnehin nicht mehr viele prominente Gesichter aufzubieten hat.
-
-
-
-
Die Wahl hängt aber nicht nur vom Profil der KandidatInnen ab und ihren Reden auf dem Parteitag, sondern auch davon, welche Dynamik der Machtkampf zwischen den Parteiströmungen entwickelt. Ausgang: völlig offen.
Janine Wissler (Parteivorsitzende Die Linke) im Interview zum Wahlausgang in Nordrhein-Westfalen
"Bin ich nur noch meine Strömung oder noch Die Linke?“
Dass es um die Existenz der Partei geht, darin sind sich alle einig. Gegenüber ZDFheute hat Bodo Ramelow, Ministerpräsident von Thüringen, erst kürzlich noch gewarnt: "Wir brauchen wieder eine bessere Performance. Und zwar eine Partei, die als Ganzes auftritt und auch als Ganzes auch in der Gesellschaft wirkt. Damit die Menschen wieder wissen, warum sie uns wählen."
Als Ganzes allerdings zeigt sich die Partei nur selten: Machtkämpfe zwischen Partei und Fraktion, zwischen Wagenknecht-Anhängern und Wagenknecht-Kritikern, zwischen denen, die die Partei programmatisch erneuern wollen und denen, die sie zurück besinnen wollen auf ihren sozialen Markenkern. Jessica Tatti, Bundestagsabgeordnete, brachte das in einem Tweet auf den Punkt.
In drei Tagen will sich die Partei im Niedergang nun wieder aufrichten. Am ersten Tag wird es vor allem ums Programm gehen, am zweiten Tag vor allem ums Personal, am dritten Tag ist Abschluss. Die Zeit-Zwänge, unter denen der Parteitag steht, zeigen sich auch daran, dass selbst der vielleicht letzte erfolgreiche Linke Bodo Ramelow heute eigentlich nur vier Minuten Redezeit bekommen sollte. Die Empörung war groß. Gestern Abend spät dann noch die Nachricht: Ramelow kann nun zehn Minuten reden - noch vor der Generaldebatte. Jeder Affront soll wohl vermieden werden, auf diesem Parteitag mit Sprengpotential.
- Sexismusvorwürfe und Machtkämpfe
Sexismus, Nötigung, Missbrauch – die Vorwürfe gegen die Linkspartei nehmen kein Ende. Der Skandal allein hat schon das Potential, die Partei in den Abgrund zu stürzen.