Erdbeben-Gefahr in Istanbul: Steht die Türkei vor dem Beben?

    Türkei: Gefahr am Bosporus:"Wir haben Angst vor einem Beben!"

    von Carsten Rüger, Istanbul
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    Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis es in Istanbul zu einem schweren Erdbeben kommt. Ist die Stadt vorbereitet? Nein. Viele Menschen haben Wut und Ohnmacht im Bauch.

    Ein Wohngebäude, dass sich gerade in Istanbul im Aufbau befindet.
    Die Stadt Istanbul versucht sich seit 1999 auf ein weiteres schweres Erdbeben vorzubereiten, aber die Vorbereitungen laufen nicht überall problemlos.

    6. Februar 2023. Im Südosten der Türkei bebt die Erde: Mehr als 50.000 Menschen sterben, mehr als eine halbe Million Häuser stürzen ein, mehr als drei Millionen Menschen haben kein Dach mehr über dem Kopf - eine Katastrophe unvorstellbaren Ausmaßes. Und trotzdem: Die viel größere Katastrophe steht noch bevor.

    Warnung aus 800 Kilometern Entfernung

    Auch wenn sie es in Istanbul in 800 Kilometern Entfernung nicht gespürt haben: Das Beben vor zwei Jahren war ein lauter Schuss vor den Bug der Millionenmetropole. Denn alle wissen: Weil Istanbul über einer tektonischen Bruchlinie liegt, wird es in absehbarer Zeit wieder zu einem schweren Erdbeben kommen. Wieder - darin steckt die Erinnerung an 1999.
    Eingestürzte Gebäude in der Türkei
    Am 6. Februar 2023 bebte im Südosten der Türkei und im Norden Syriens die Erde. Viele starben oder wurden verletzt. Wie ist die Lage in der Türkei zwei Jahre nach der Katastrophe?28.01.2025 | 2:20 min

    Schweres Beben von 1999 forderte mehr als 1000 Opfer

    Damals erschütterte ein Beben die Stadt Izmit am Marmarameer. Auch Istanbul wurde schwer getroffen: Allein im Stadtteil Avcılar starben mehr als 1.000 Menschen. Die Katastrophe offenbarte schwere Mängel bei der Bausubstanz: Mancherorts hatten die Baufirmen für den Beton salzhaltigen Meeressand verwendet, der die Armierungseisen zersetzte. Auch sonst waren die geltenden Bauvorschriften nicht eingehalten worden - wenn es denn überhaupt solche Vorschriften gab.

    "200.000 unsichere Häuser hängen wie ein Damoklesschwert über uns"

    Seit 1999 gelten nun strenge Bauvorschriften. Doch der Chef der Architektenkammer, Alper Ümlü, erklärt uns: Von den 1,2 Millionen Gebäuden, die es in Istanbul gibt, seien heute immer noch 800.000 in einem kritischen Zustand:

    Davon sind rund 200.000 Häuser in einem sehr riskanten Zustand. Eine große Gefahr, die wie ein Damoklesschwert über uns schwebt!

    Alper Ümlü, Vorsitzender Architektenkammer Istanbul

    Der Beweis vergangenes Jahr: Ein vierstöckiges Haus im Stadtteil Küçükçekmece kracht zusammen. Ohne Beben, einfach so. Der Minister für Stadtplanung ruft deshalb erneut die Bürger auf: "Lassen Sie uns unsere Häuser so schnell wie möglich sanieren!" Doch die Idee, Häuser abzureißen und erdbebensicher wieder aufzubauen, wurde schon 1999 geboren. Warum ist in den letzten 25 Jahren nicht mehr geschehen?
    Re: Die Türkei im Jahr nach dem Beben
    Zwei heftige Erdbeben erschüttern im Februar 2023 den Südosten der Türkei und Syrien mit mehr als 50.000 Toten. Auch ein Jahr später fehlt es an allem: Arbeit, Wohnraum, Infrastruktur, trotz des Versprechens von Präsident Erdogan, die Region schnell wieder aufzubauen. Doch der hastige Abriss und Neuaufbau birgt neue Risiken, und wieder fühlen sich die Menschen allein gelassen.19.12.2024 | 30:15 min

    "Ich wohne in einem alten Gebäude und habe Angst!"

    Dilek ist Managerin in einem großen Pharmaunternehmen. Sie lebt in Kadıköy, liebt diesen Stadtteil. Trotzdem hat sie ein Gefühl von Angst, Wut und Ohnmacht im Bauch, wenn sie an die Wohnung denkt, die sie hier gekauft hat und in der sie wohnt.

    Das Gebäude ist von 1973. Das bedeutet: Es ist vor 1999 gebaut worden. Nicht nach den strengen neuen Vorschriften. Deshalb haben wir Angst. Deshalb wollen wir alle das Haus neu bauen.

    Dilek, Wohnungsbesitzerin in Istanbul

    Eigentlich ein Glücksfall: Es gibt keinen Streit, sondern die gesamte Wohnungseigentümergemeinschaft ist sich einig: Das Haus sollte - wie es seit 1999 ja nach dem "Stadterneuerungsplan" propagiert wird - abgerissen und erdbebensicher wieder aufgebaut werden. "Aber wir finden keine Baufirma. Wir haben mit 20 Bauunternehmen gesprochen - kein Erfolg!"
    Entstehung Erdbeben CC
    Die Gesteinsplatten der Erdkruste sind ständig in Bewegung. Sie können sich verhaken und eine enorme Spannung aufbauen. Löst sich diese ruckartig, bebt die Erde.26.09.2022 | 1:44 min

    Problem: einen Bauunternehmer finden

    Der Istanbuler Stadterneuerungsplan sieht vor, dass ein privater Bauunternehmer die alten Häuser abreißt und den Besitzern eine Neubauwohnung an gleicher Stelle garantiert. Um dabei auch etwas zu verdienen, baut er mehr Geschosse als ursprünglich. Die zusätzlichen Wohnungen verkauft er dann auf seine Rechnung. "Das jetzige Haus hat fünf Stockwerke, 14 Wohnungen", erklärt Dilek. "Wir haben den Firmen angeboten, dass sie das neue Haus mit 10 Stockwerken und 20 Wohnungen bauen könnten. Also sechs Wohnungen hätten die Baufirmen dann zum Verkauf. Dabei wäre nach den Plänen sogar der Nachteil für uns, dass unsere Wohnungen dann erheblich kleiner werden würden, von zum Beispiel ursprünglich 90 Quadratmetern auf 65 Quadratmeter schrumpfen. Trotzdem haben alle Firmen abgelehnt. Für sie nicht profitabel genug!" Die Baufirmen interessierten sich gar nicht für ihre Straße, meint sie:

    Sie wollen lieber Häuser nahe der Bağdat-Straße bauen, einer bekannten Modestraße. Da lässt sich mehr Geld machen. Da ist der Gewinn höher. Es geht nur um den Profit!

    Dilek, Wohnungsbesitzerin in Istanbul

    Um das Haus auf eigene Kosten exakt in seiner bisherigen Größe wieder aufzubauen, verlangen die Baufirmen, dass jeder Wohnungseigentümer sechs Millionen Lira zahlt - fast das Doppelte von dem, was Dilek vor zwei Jahren für ihre jetzige Wohnung bezahlt hat. Für alle also unmöglich.
    Leon Windscheid vor Hagia Sophia in Istanbul Collage
    Istanbul ist die einzige Weltstadt, die auf zwei Kontinenten steht. Eine vibrierende Mega-Metropole, die noch immer mit ihrem "Tausendundeine Nacht"-Flair betört.15.09.2024 | 43:33 min

    Bei Erdbeben: So schnell wie möglich rennen

    So bleibt alles, wie es ist. So bleiben alle hier wohnen. Und so bleibt die Angst.

    Ja, natürlich wohne ich hier mit Angst. Leider!

    Dilek, Bewohnerin von Istanbul

    "Aber zum Glück wohne ich ja im Erdgeschoss und damit nah an der Haustüre. Bei einem Erdbeben werde ich versuchen, so schnell wie möglich raus zu rennen." Sie lächelt. Sie weiß, wie schlecht die Chancen sind. "Ich hoffe einfach, es gibt kein Erdbeben."

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    Quelle: dpa

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