Pläne vieler EU-Staaten:Mehr Atomkraft in EU: Vernunft oder Irrsinn?
von Michael Wiedemann, Birgit Hermes
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Wichtige Industrienationen versprechen auf der Klimakonferenz, bis 2050 dreimal mehr Atomstrom zu produzieren. Kann das funktionieren? Mit welchen Konsequenzen für Deutschland?
Ausstieg aus der Atomkraft oder doch Ausbau?
Quelle: dpa
Eigentlich ist es eine paradoxe Situation: Gerade verkündet der Nuclear Industry Status Report, der Anteil nuklearen Stroms sei - nach einem Höhepunkt von über 17 Prozent im Jahr 1996 - letztes Jahr weltweit mit knapp unter zehn Prozent etwa auf das Niveau des globalen Anteils von Wind und Sonne gesunken, da beschließen 22 Länder, darunter auch zwölf EU-Nationen und Großbritannien, ihrer Klimaziele wegen, die Atomkraft massiv bis 2050 auszubauen.
Laut Internationaler Atomenergiebehörde (IAEA) haben die Atomkraftwerke der EU-Länder, die die Vereinbarung von Dubai unterzeichneten, aktuell eine Kapazität von fast 100 Gigawatt. "Wenn man die Bauzeiten der letzten AKW-Vorhaben in Europa betrachtet, dann ist eine Verdreifachung sehr ambitioniert", meint Christian Rehtanz vom Institut für Energiesysteme der TU Dortmund.
Experte: Verdreifachung der Reaktorleistung im Prinzip machbar
Walter Tromm, wissenschaftlicher Sprecher des Karlsruher Instituts für Technologie, verweist dagegen auf eine ähnliche Anstrengung, die in den 80er-Jahren erfolgreich umgesetzt wurde. Damals wären weltweit fast die Mengen an Reaktorleistung jährlich zugebaut worden, die nun auch benötigt würden.
"Das wäre weltweit extrem anspruchsvoll, im Prinzip aber machbar, auch technisch", so Walter Tromm. Gleichzeitig glaube er aber, dass es aus anderen Gründen - etwa gesellschaftspolitischen - nicht wirklich realistisch sei.
Dass zumindest manche der Unterzeichner ihr Vorhaben durchaus ernsthaft betreiben wollen, zeigt aber jüngst die Ankündigung Schwedens: Einem "Welt"-Bericht zufolge wolle das EU-Land sich bis 2050 daran machen, insgesamt zwölf Reaktoren neu zu bauen.
Finnland: Im Westen des Landes entsteht zur Zeit mit breiter Zustimmung der Bevölkerung ein drittes Atomkraftwerk. Unmittelbar daneben entsteht auch das Endlager. 13.12.2022 | 2:18 min
Wäre ein AKW-Ausbau überhaupt finanzierbar?
Kernkraftwerke bisherigen Typs sind sehr teuer - in Europa sind zweistellige Milliardenbeträge dafür Normalität. Und die endgültigen Kosten beim Bau sind oft nicht absehbar. Flamanville in Frankreich, Hinkley Point in England und das finnische Olkiluoto sind dafür beredte Beispiele. Bis zu viermal mehr als ursprünglich geplant kosten diese Meiler.
Für Martin Weibelzahl von der Universität Luxemburg ist klar:
Einem "Welt"-Bericht zufolge scheint sich eine solche Entwicklung an den Börsen auch leise abzuzeichnen. Während "nachhaltige" Fonds wie der Clean Energy ETF oder der Invesco Solar Energy in diesem Jahr signifikante Wertverluste hinnehmen mussten, verteuerten sich etwa die Aktien des weltweit größten Uranproduzenten Kazatomprom in derselben Zeit um über 30 Prozent. Papiere der kanadischen Cameco stiegen gar um über 80 Prozent.
Europäische Länder halten an kleinen Reaktoren fest
Sollten sich überdies zukünftig doch sogenannte Small Modular Reactors (SMR), kleinere, flexibler einsetzbare Reaktoren, die seriell produziert werden können, durchsetzen, könnte sich die Kostenfrage möglicherweise noch einmal neu stellen. "Günstigere in Serie gefertigte Reaktoren sind zur Kostenreduktion versprochen worden, jedoch ist der Nachweis hierzu noch nicht erbracht", sagt Christian Rehtanz von der TU Dortmund.
Zwar ist ein erster Versuch mit einem SMR in den USA jüngst fehlgeschlagen, aber europäische Länder wie Frankreich, Rumänien, Polen und Großbritannien halten weiterhin an ihren Planungen mit solchen Reaktortypen fest.
Welche Rolle könnte Kernkraft für die Energiewende spielen?
Hierzulande ist diese CO2-arme Grundlastfähigkeit Ende April dieses Jahres durch das Abschalten der letzten drei deutschen Kernkraftwerke endgültig weggefallen und wurde durch Kohle bzw. Erdgas ersetzt.
Um die Erderwärmung einzudämmen, müssen Kohlenstoffdioxid-Emissionen vermieden werden. Doch nicht überall ist das möglich. Verfahren wie CO2-Abscheidung und -Speicherung könnten helfen.30.11.2023 | 1:42 min
Gegenüber der "Süddeutschen Zeitung" beziffert André Thess, Institutsleiter an der Universität Stuttgart, die dadurch entstandene CO2-Mehrbelastung auf 15 Millionen Tonnen zusätzlich jährlich. Allerdings ist in der Wissenschaft umstritten, welche CO2-Belastung der Atomenergie zuzurechnen ist. Je nach Annahme verringert oder erhöht sich die zusätzliche CO2-Belastung durch Kohle oder Gas erheblich. Klar ist aber: Atomkraft spart im Vergleich zu den fossilen Brennstoffen.
Kernkraftwerke für die Produktion von Wasserstoff
Eine ganz andere Rolle könnte Kernkraft aber im Zusammenhang mit der gewünschten Dekarbonisierung der Wirtschaft spielen: bei der Erzeugung von Wasserstoff. Kernkraftwerke könnten dazu beitragen, dass die erheblichen Mengen an Strom, die zur Produktion von Wasserstoff benötigt werden, im Inland zur Verfügung stehen.
Noch ist grüner Wasserstoff sehr teuer, doch kann die Wasserstoffstrategie, die die Ampel-Koalition beschlossen hat, den Durchbruch für diesen möglichen Energieträger der Zukunft bringen?22.09.2023 | 2:03 min
"Im Zusammenspiel mit AKW könnte die Erzeugung von Wasserstoff aus erneuerbaren Energien und zusätzlich Kernenergie gemeinsam einfacher in einem Gesamtsystem optimiert werden", so Christian Rehtanz. Außerdem würde die zusätzliche Energiegewinnung durch Atomkraft vielen Ländern strategisch eine Absicherung zur sicheren Versorgung mit CO2-armer Energie eröffnen.
Nach Meinung des Leitautors zu Energiesystemen im jüngsten IPCC-Bericht, solle Deutschland diese Überlegungen nicht außer Acht lassen. Auch wenn ein Neubau von Kernkraftwerken in absehbarer Zeit nicht auf der Tagesordnung stehen dürfte.
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