Ärzte ohne Grenzen in Gaza: "Kein Kind vom Krieg unberührt"
Interview
Ärzte ohne Grenzen in Gaza:Therapeutin: "Kein Kind vom Krieg unberührt"
von Marcel Burkhardt
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Die Notfalltherapeutin Katrin Glatz Brubakk behandelt schwerverletzte Kinder im Gazastreifen. Sie sagt: "Der Krieg wird noch lange in den Kindern weiterleben."
Vertriebene palästinensische Kinder auf einer Straße im nördlichen Gazastreifen
Quelle: dpa
ZDFheute: Als Spezialistin für Traumatherapie sind Sie zum wiederholten Mal für die Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" im Gazastreifen im Einsatz. Wie erleben Sie die Lebenssituation der Menschen dort?
Katrin Glatz Brubakk: Nach 15 Monaten Krieg und ständiger Angst sind sie erleichtert, dass sie noch leben, aber nun stellt sich die große Frage, wie es weitergehen soll. Viele besuchen ihre früheren Wohnviertel, nur um sie zerstört vorzufinden.
Ein Beispiel: Ein Kollege aus Dschabalia hat mir erzählt, dass er in seinem alten Viertel jede Straßenecke, jeden Laden, jedes Café kannte. Als er jetzt dort war, konnte er sich überhaupt nicht mehr orientieren. Alles war in Schutt und Asche. Alles war weg.
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ZDFheute: Dennoch kehren viele Geflüchtete in ihre einstigen Wohnorte zurück, die nur noch Trümmerwüsten sind. Was erhoffen sie sich?
Glatz Brubakk: Viele Menschen wollen zurück in ihre Heimat und hoffen, dass in ihrem Haus vielleicht noch ein Zimmer bewohnbar ist. Das ist besser als ein Zelt.
Andere Menschen wollen sich einfach nur verabschieden und hoffen, in den Trümmern etwas aus ihrem alten Leben retten zu können - sei es ein Kleidungsstück oder ein Hochzeitsfoto.
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Katrin Glatz Brubakk, Ärzte ohne Grenzen
Oder auch einfach nur ein Kochtopf. Viele Menschen haben nichts mehr außer dem, was sie am Körper tragen.
Quelle: Privat
… ist eine norwegische Kinderpsychologin und Expertin für Traumatherapie. Sie arbeitet hauptberuflich als Assistenzprofessorin an der Technisch-Naturwissenschaftlichen Universität Norwegens mit Sitz in Trondheim. Zudem ist sie seit vielen Jahren für die internationale Hilfsorganisation "Ärzte ohne Grenzen" im Einsatz. Im Juli 2025 erscheint ihr "Tagebuch aus Gaza – Der Bericht einer Helferin über Verlust, Traumata und Hoffnung" auf Deutsch.
ZDFheute: US-Präsident Donald Trump plant nach eigenen Worten, die Palästinenser aus Gaza nach Jordanien und Ägypten umzusiedeln. Wie haben die Menschen um Sie herum diese Nachricht aufgenommen?
Glatz Brubakk: Meine Kollegen sagen: "Wir sind Gazaner, wir bleiben Gazaner und solange sie uns nicht umbringen, bleiben wir hier. Denn hier ist unsere Geschichte, unsere Familie und hier wollen wir weiterleben."
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ZDFheute: Sie kümmern sichim Nasser-Krankenhaus in Chan Yunis vor allem um verwundete Kinder. Was können Sie für diese Mädchen und Jungen tun?
Glatz Brubakk: Ich leite ein Team für psychologische Unterstützung. Die Kinder, die zu uns kommen, haben entweder schwere orthopädische Schäden erlitten, ein Bein, einen Arm verloren. Oder sie haben größere Brandwunden.
Die psychologischen Traumata folgen. Die Kinder leiden unter enormem Stress. Den versuchen wir durch Gespräche, Atem- und Entspannungsübungen etwas zu reduzieren.
Aber diese Kinder bräuchten längere Traumatherapien. Die Bedürfnisse sind enorm, denn kein Kind in Gaza ist von diesem Krieg unberührt geblieben.
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Katrin Glatz Brubakk, Ärzte ohne Grenzen
ZDFheute: Unter welchen Umständen leben diese Kinder derzeit?
Glatz Brubakk: Die meisten Menschen leben in Zelten, und die Kinder gehen nicht zur Schule. Der Alltag ist belastend und unsicher. Vor wenigen Tagen hat ein Sturm viele Zelte zerstört. Das hat traumatisierte Kinder an das Kriegschaos erinnert. Der Krieg wird noch lange in den Kindern weiterleben.
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ZDFheute: Wie steht es um die erwachsenen Bezugspersonen der Kinder?
Glatz Brubakk: Eine palästinensische Kollegin, eine Psychologin, sagt: "Jetzt kommt der Krieg nach dem Krieg." Sie meint damit: Jetzt sollen alle Gefühle bearbeitet werden. Denn während des Krieges haben alle die ganze Kraft dafür verwendet, Tag um Tag zu überleben. Aber jetzt kommt die Trauer über den Verlust von Familienangehörigen und Freunden hoch. Die Trauer, dass man so Vieles verloren hat im Leben.
ZDFheute: Alles in allem eine extrem schwierige Situation, die Außenstehende kaum erfassen können…
Glatz Brubakk: Ja, es können ja selbst Menschen nicht fassen, die es selbst erleben.
Krieg raubt den Menschen ihre Identität, indem er ihr gewohntes Leben zerstört. Zum Beispiel die Wohnung als sozialen Mittelpunkt ihres Lebens.
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Katrin Glatz Brubakk, Expertin für Traumatherapie
Tausend kleine Stücke, die das Leben und die Identität ausmachen, sind verloren. Diese Trauer und die Erkenntnis, dass alles weg ist, sind sehr schwer zu verkraften.
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Viele Erwachsene, darunter Patienten und Kollegen, fallen langsam in Depressionen, weil sie das Ausmaß des Verlusts begreifen. Der Krieg hat alles zerstört.
ZDFheute: Wie verkraften Sie all diese Eindrücke?
Glatz Brubakk: Es gibt zum Glück Kolleginnen und Kollegen, mit denen ich mich austauschen kann. Was ich hier im Krieg erlebt habe, habe ich zudem in einem Tagebuch festgehalten. Es wurde inzwischen in Norwegen veröffentlicht und erscheint im Juli auf Deutsch. Das gibt mir Hoffnung, dass die Geschichten der Menschen aus dem Gazastreifen gehört und verstanden werden.
Das Interview führte Marcel Burkhardt.
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