Gaza: Wie blicken die Palästinenser auf die Hamas?
Jubel bei Leichenübergabe:Wie blicken die Palästinenser auf die Hamas?
von Ninve Ermagan
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Die Hamas übergibt die Leichen von Israelis - begleitet unter Jubel zahlreicher Palästinenser. Die Empörung ist groß - viele würden mit der Hamas sympathisieren. Stimmt das?
Propaganda-Show der Hamas: Israels Ministerpräsident Netanjahu wird als Vampir gezeigt.
Quelle: dpa
Am Donnerstag hat die Hamas die Leichen von israelischen Geiseln übergeben. Darunter die Kinder Ariel und Kfir, die im Alter von vier Jahren und neun Monaten aus dem Kibbuz Nir Orz verschleppt worden waren.
Am Übergabeort war eine Bühne errichtet mit vier schwarzen Särgen. Neben ihnen standen zahlreiche vermummte Islamisten in Uniformen, die von lauter Musik begleitet wurden. Ganz groß im Hintergrund als Vampir abgebildet: Der israelische Ministerpräsident Benjamin Netanjahu mit folgendem Schriftzug: "Der Kriegsverbrecher Netanjahu und seine Nazi-Armee haben sie mit Raketen zionistischer Kampfjets getötet."
Die Hamas hat vier tote Geiseln an Israel übergeben. Unter ihnen befindet sich laut israelischen Experten jedoch eine unbekannte Palästinenserin.21.02.2025 | 1:31 min
Jubel der Palästinenser sorgt für Fassungslosigkeit
Die Bühne war von einer Menge jubelnder Palästinenser umgeben, die lautstark ihre Unterstützung zeigten. Sie klatschten, riefen und feuerten die Szene mit Enthusiasmus an. Die Bilder lösen in den sozialen Medien Fassungslosigkeit aus - immer mehr kritische Stimmen setzen die Zivilbevölkerung mit der Hamas gleich und rechtfertigen das militärische Vorgehen der israelischen Regierung in dem Küstenstreifen. "Sogar im Nazi-Deutschland gab es Deutsche, die Juden retteten", kommentierte Gilad Erdan auf X, der Botschafter Israels bei den Vereinten Nationen.
Die Hamas muss ausgelöscht werden. Und zwar vollständig.
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Gilad Erdan, Israels Botschafter bei den Vereinten Nationen
Auch der israelische Botschafter Ron Prosor in Deutschland sprach von einem inszenierten "Fest".
Das ist ein Todeskult. Eine kranke Gesellschaft, die ihren Kindern beibringt, sich am Anblick ermordeter Babys zu ergötzen.
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Ron Prosor, Israels Botschafter in Deutschland
Doch ist das wirklich so? Wie steht die Bevölkerung Gazas zu der herrschenden Terrororganisation?
Die Übergabe der Särge im Video:
Die Terrororganisation Hamas hat die Leichen von vier israelischen Geiseln übergeben.20.02.2025 | 1:28 min
Aktivist: "Kritik an der Hamas ist de facto verboten"
Der bekannte palästinensische Friedensaktivist Hamza H. erklärt im Gespräch mit ZDFheute, dass es sehr wohl Widerstand aus der Zivilbevölkerung gebe. Die Propaganda-Show der Hamas ist für den Aktivisten nicht überraschend und ein "schauriges Spektakel" um die Weltöffentlichkeit zu täuschen, schreibt er auf der Plattform X. Als es jedoch um die Vereinbarung ging, den richtigen Leichnam zurückzugeben, hätte sie "versagt."
Ihre Aktionen, darunter die Störung von Paraden und Täuschungen bei Geiselverhandlungen, zielen darauf ab, Leid zu verursachen und jede Chance auf eine Lösung zu untergraben.
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Hamza H., palästinensischer Friedensaktivist
Quelle: privat
... ist ein palästinensischer Friedensaktivist, der in Gaza-Stadt aufgewachsen ist. Er lebte im von der Hamas kontrollierten Gazastreifen, bis er im August 2023 nach Deutschland flüchtete. Heute setzt er sich weiterhin für Frieden und Menschenrechte in Nahost ein.
In seinen öffentlichen Äußerungen kritisiert er sowohl die Hamas als auch die in Teilen rechtsextreme israelische Regierung.
Quelle: ZDF
Der 27-Jährige ist im August 2023 aus Gaza nach Deutschland geflüchtet - und beschreibt, wie er aufgrund seiner Teilnahme an Demonstrationen gegen die Terrororganisation immer wieder festgenommen und gefoltert wurde. Denn "Kritik an der Hamas ist de facto verboten", erklärt Hamza. Das Leben unter der Terrororganisation sei ein "permanenter Alptraum, ein Leben das von einem System der Angst und Kontrolle bestimmt wurde".
Wer Kritik äußert, landet in den sogenannten "Polizeistationen", die in Wirklichkeit Folterzentren sind. Dort wird man so lange misshandelt, bis man verspricht, ihnen nie mehr zu widersprechen.
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Hamza H., palästinensischer Friedensaktivist
"Es ist tatsächlich apokalyptisch", so Martin Frick, Direktor Welternährungsprogramm in Deutschland zur Lage in Gaza.21.01.2025 | 5:04 min
Hamas schuf zwei Schichten in der Gesellschaft
Er sagt, er habe Glück gehabt, dass seine Familie ein Bestechungsgeld zahlen konnte und er nach ein paar Wochen freigekommen sei. Hamza sieht es als seine moralische Verpflichtung, darauf aufmerksam zu machen, dass nicht alle Palästinenser in Gaza die Hamas unterstützen und die Gräueltaten an den Israelis am 7. Oktober feiern würden.
Er erklärt, dass die Hamas zwei Gesellschaftsschichten schuf: eine wohlhabende Elite, die zur Bewegung gehörte, und den Rest der Bevölkerung, die täglich ums Überleben kämpfte. Wer nicht in die Strukturen der Hamas eingebunden sei, habe es schwer gehabt, eine Arbeit zu finden oder Bildungschancen zu erhalten.
Manche Menschen schlossen sich der Hamas nicht aus ideologischer Überzeugung an, sondern weil sie sich wirtschaftliche Vorteile erhofften.
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Hamza H., palästinensischer Friedensaktivist
"Der Waffenstillstand und das Abkommen sind in einer kritischen Phase", so ZDF-Korrespondent Thomas Reichart.12.02.2025 | 2:26 min
Zustimmung zur Hamas nur schwer zu ermitteln
Vor dem 7. Oktober hatte die Hamas eine breite Unterstützung in der Bevölkerung, erklärt Hamza. "Heute können wir verschiedenen Umfragen entnehmen, dass diese Unterstützung massiv gesunken ist." Die Umfragen zeichnen ein gemischtes Bild. Tom Khaled Würdemann, Nahostwissenschaftler von der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg, erklärt, dass die Unterstützung der Hamas in Gaza nur schwer zu messen sei. Das bestätigt auch ZDF-Korrespondent Luc Walpot.
Denn es sei nach wie vor nicht möglich, sich offen gegen die Hamas zu stellen - und alle Institutionen werden von der Hamas kontrolliert, so Walpot.
Wir als ausländische Journalisten dürfen seit eineinhalb Jahren nicht nach Gaza, deshalb ist es schwierig, sich ein eindeutiges Bild zu machen.
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Luc Walpot, ZDF-Korrespondent in Tel Aviv
Organisationen wie Unicef und das Rote Kreuz "sind zur strikten Neutralität verpflichtet", erklärt Walpot.
Die Regierung könne vorgehen, wie sie wolle, US-Präsident Trump werde das "stützen". Für die Palästinenser lasse das "nichts Gutes erwarten", sagt ZDF-Korrespondent Luc Walpot.20.02.2025 | 3:43 min
Aktivist: Menschen in Gaza müde von Krieg und Zerstörung
Eine Umfrage von Arab World for Research and Development (AWRAD) aus dem Mai 2024 ergab, dass nur 24 Prozent positive Gefühle gegenüber der Hamas hatten, während 70 Prozent die Richtung, in die sich Palästina bewegt, als "falsch" bezeichneten. Eine Umfrage vom Palestinian Center für Policy and Survey Research (PSR), die im September 2024 durchgeführt wurde, zeigt eine sinkende Beliebtheit in Gaza für den Angriff vom 7. Oktober, aber eine wachsende Unterstützung für die Hamas.
Hamza erklärt, dass die Menschen in Gaza in den letzten 15 Monaten eine beispiellose Zerstörung erlebt haben - weit schlimmer als frühere militärische Auseinandersetzungen.
Die Bevölkerung ist traumatisiert, fast jede Familie hat Angehörige verloren. Die Menschen sind müde von Krieg und Zerstörung.
Anmerkung der Redaktion: In der ersten Version wurde das Plakat der Hamas mit folgendem Schriftzug übersetzt: "Der Kriegsverbrecher Netanjahu und seine Armee haben sie mit Raketen zionistischer Kampfjets getötet." Tatsächlich spricht die Hamas von einer "Nazi-Armee." Wir haben die Stelle entsprechend angepasst.
Mit dem Hamas-Angriff auf Israel eskalierte der Nahost-Konflikt. Anfang des Jahres konnte eine Waffenruhe vereinbart werden. Seit dieser Nacht fliegt Israel wieder Angriffe in Gaza.