Notfallsanitäter zu Rafah: "Niemand hat einen Plan"
Interview
Sanitäter zu Lage in Rafah:Evakuierungen: "Niemand hat einen Plan"
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Rafah droht eine israelische Bodenoffensive. Ein Notfallsanitäter spricht von verzweifelten Menschen. Wie eine Evakuierung vonstatten gehen soll, sei "absolut ein Rätsel".
Israel plant eine Bodenoffensive in Rafah. Ein Team der deutschen Hilfsorganisation Cadus ist vor Ort. Gründer Sebastian Jünemann berichtet von der aktuellen Situation.11.02.2024 | 6:21 min
Derzeit konzentrieren sich die israelischen Militäroperationen verstärkt auf die Stadt Rafah im Süden des Gazastreifens. Dorthin sind mehr als eine Million Palästinenser geflüchtet. International gibt es an den israelischen Angriffen Kritik, unter anderem von Außenministerin Annalena Baerbock:
Die deutsche Hilfsorganisation Cadus hat ein Notfall-Medizin-Team in die Stadt geschickt. Cadus-Gründer Sebastian Jünemann aus Berlin ist derzeit in Rafah. Im Interview mit ZDF-Moderator Christian Sievers berichtet Jünemann von einem zusammengebrochenen Gesundheitssystem.
Sehen Sie oben das gesamte Interview oder lesen Sie es hier in Auszügen.
Sievers: Wie würden Sie das beschreiben, was Sie aktuell in Gaza vorfinden?
Jünemann: Tatsächlich muss ich sagen, dass die Situation hier in Gaza doch den Rahmen dessen sprengt, was wir bislang erlebt haben. Die Situation hier in Rafah: Man kriegt kaum ein Fuß auf den Boden.
In den Krankenhäusern erleben wir nur Chaos, es gibt keine Logistik, Bombardierungen eigentlich jede Nacht. Die Situation ist tatsächlich, so wie wir es vorher auch noch nicht erlebt haben.
Sievers: Können Sie Ihre tägliche Arbeit beschreiben?
Jünemann: Unsere Arbeit besteht momentan darin, in einem der noch ein wenig funktionierenden Krankenhäuser die Notaufnahme zu besetzen und dort Traumastabilisierung zu machen. Das heißt, zu uns kommen schwerverletzte Zivilist*innen.
Es sind vor allem sehr junge und auch sehr alte Patienten und Patientinnen, die quasi bei den Bombardierungen was abbekommen oder auch von rumfliegenden Steinbrocken getroffen werden oder ähnliches. Wir kümmern uns aber natürlich auch um das, was durch das ausgefallene Gesundheitssystem liegen geblieben ist.
Im Gazastreifen finden weiter Angriffe statt, auch in den Städten Chan Junis und Rafah.11.02.2024 | 1:34 min
Sievers: Haben Sie denn das Gefühl, adäquat helfen zu können?
Jünemann: Ich glaube, da würden wir uns selbst belügen. Adäquate Hilfe würde bedeuten: eine Feuerpause, ausreichende Hilfsgüter zu bekommen, dass beide kämpfenden Seiten die Zivilist*innen auch schützen und vor allem humanitäre Helfer und Helferinnen schützen. Unter diesem Gesichtspunkt kann man sagen: Nein, adäquat nicht.
Sievers: Sie haben gerade gesagt, dass beide kämpfenden Seiten tatsächlich die Zivilistinnen und Zivilisten schützen sollten. Sie haben also den Eindruck, das passiert auf beiden Seiten aktuell überhaupt nicht, richtig?
Jünemann: Das ist unser Eindruck. Momentan ist es so, dass all das, was normalerweise an Regelungen und auch in solchen Kriegsgebieten in Kraft sein sollte, außer Kraft gesetzt scheint. Es gibt überhaupt keine Regelungen, an die man sich mal wirklich halten kann.
Wir fühlen uns hier in Rafah noch ganz gut aufgestellt. Aber die Situation im Norden ist ja noch um einiges schlimmer. Es geht da nicht nur darum, dass die medizinische Versorgungslage tatsächlich unvorstellbar mies ist, sondern es geht auch um Versorgung mit Nahrungsmitteln, mit Wasser, mit dem Allernotwendigsten, auch mit der Unterkunft.
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Sievers: Israels Militär soll auf Anweisung des Premierministers eine Offensive in Rafah planen und die Evakuierung der Menschen dort. Das sind ja weit über eine Million Menschen, die aktuell dort Schutz suchen. Haben Sie irgendeine Idee, wo diese Menschen dann hin sollen?
Jünemann: Nein, ganz ehrlich, das ist genau der Punkt. Ich kann mir das überhaupt nicht vorstellen, wie das funktionieren soll. Der Weg in den Osten ist ja versperrt, nach Norden momentan auch versperrt. Da ist auch alles kaputtgebombt. Nach Süden, die Grenze nach Ägypten ist halt dicht.
Es gibt hier wirklich nirgendwo mehr was, wo noch Platz wäre. Die Menschen wissen nicht, wo sie hin sollen. Deswegen weiß ich gar nicht, wie die Evakuierungen hier vonstatten gehen sollen. Das bleibt bislang nur absolut ein Rätsel.
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Sievers: Es gibt immer wieder schwere Vorwürfe aus Israel, dass die Hamas Krankenhäuser benutzt, um die eigenen Schaltzentralen zu tarnen. Israel hat dafür auch Indizien vorgelegt. Ist Ihnen irgendwas oder irgendwer aufgefallen, von dem Sie sagen würden, das ist wirklich komisch, das ist verdächtig, das passt einfach nicht zu einem Krankenhaus?
Jünemann: Uns wird auch selbst von lokalen Menschen gesagt, dass an diesen Vorwürfen natürlich etwas dran ist. Jetzt muss man sagen, die Krankenhäuser, die noch verblieben sind, das sind viele Krankenhäuser, die vorher in privater Hand gewesen sind zum Beispiel.
Das sind teilweise Neubauten, wo wir nur sagen können, dass uns das, was immer als Tunnelsystem benannt wird, nicht aufgefallen ist. Das wäre für uns ja auch ein Grund, sich absolut davon fernzuhalten als humanitäre Helfer*innen. Wir haben aber natürlich auch keinen hinreichenden Überblick. Deswegen können wir dazu ansonsten gar nicht so viel sagen.
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Sievers: Wie gehen die Menschen mit der Tatsache um, dass ihnen wirklich niemand sagen kann, wie lange das alles noch dauern soll?
Jünemann: Die Menschen sind extrem verzweifelt und gerade diese Perspektivlosigkeit führt auch dazu, dass die Masse immer unruhiger wird und es tatsächlich auch schon zu einzelnen Ausschreitungen kommt. Man erlebt hier alles von absoluter Apathie bis hin zu Wut. Ich glaube, niemand hat einen Plan, niemand weiß, wohin es geht und das ist ja auch der Teil dessen, was die Situation gerade einfach noch schlimmer macht, dass halt keine Lösungen in Sicht sind momentan.
Seit dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel gleicht die Region einem Pulverfass. Ein Frieden scheint weit weg. Alles zum Nahost-Konflikt hier im Ticker.