Syrien: Wie geht es weiter nach den Massakern?

    Analyse

    Frieden oder Bürgerkrieg:Syrien: Wie weiter nach den Massakern?

    Autorenfoto Nils Metzger
    von Nils Metzger
    |

    In Syrien töten islamistische Milizen Hunderte Zivilisten. Fast zeitgleich schließt die neue Regierung ein Frieden sicherndes Abkommen mit den Kurden. Wie passt das alles zusammen?

    Syrien, Jableh: Angehörige der syrischen Sicherheitskräfte patrouillieren auf einer Straße in der Stadt Jableh, 25 km südlich von Latakia. Der syrische Übergangspräsident al-Sharaa kündigte am Sonntag die Bildung eines Hohen Komitees für den zivilen Frieden an, das die Aufgabe hat, direkt mit den Gemeinschaften in der Küstenregion in Kontakt zu treten, um Bedenken auszuräumen und Stabilität zu gewährleisten.
    Im Westen Syriens kämpfen wieder Anhänger des gestürzten Assad-Regimes und Truppen der neuen Regierung gegeneinander. Fast 1.000 Zivilisten sollen dabei getötet worden sein.10.03.2025 | 2:41 min
    Wird Syrien nach Jahren des Bürgerkriegs zur Ruhe kommen? Innerhalb weniger Tage gab es zwei einschneidende Ereignisse, die darauf widersprüchliche Antworten geben und das Land zeitgleich Richtung Abgrund und Richtung Einigung zerren: die Massaker in der Küstenregion und das Abkommen zwischen Übergangsregierung und kurdischen SDF-Milizen. Wie geht es jetzt weiter?

    Was ist bei den jüngsten Massenmorden geschehen?

    Seit Diktator Baschar al-Assad im Dezember nach Russland geflohen ist, gab es vereinzelt Übergriffe auf Minderheiten und Proteste, die von der Übergangsregierung mit Ausgangssperren und anderen Maßnahmen kleingehalten wurden. Dennoch blieb es nach Einschätzung von Menschenrechtsgruppen lange vergleichsweise friedlich.
    Das änderte sich am 6. März, als Pro-Assad-Kämpfer in einer koordinierten Aktion Sicherheitskräfte in der Stadt Dschabla in der Küstenprovinz Latakia und an weiteren Orten angriffen. Auch Zivilisten waren Ziel. Angehörige islamistischer Milizen schlugen daraufhin brutal zurück und verübten zur Vergeltung einen vor allem gegen die alawitische Minderheit gerichteten Massenmord in der Küstenregion. Laut syrischer Beobachtungsstelle für Menschenrechte wurden in den 72 Stunden danach rund 1.450 Menschen getötet, darunter 973 Zivilisten in 39 verschiedenen Massakern. 231 Mitglieder der Sicherheitskräfte und etwa 250 Kämpfer mit Verbindungen zur früheren Regierung seien getötet worden.
    Collage: Porträt Ahmad al-Scharaa - linke Hälfte Fahnungsfoto als einer der meistgesuchten Männer der Welt, rechte Bildhälfte Foto als Machthaber von Syrien
    Ahmad al-Scharaa, besser bekannt unter seinem Kampfnamen "Abu Mohammad al-Dschulani": Bis vor Kurzem war er einer der meistgesuchten Männer der Welt – Kopfgeld: 10 Mio. US-Dollar.17.01.2025 | 17:38 min
    Der Syrien-Experte Christoph Leonhardt sagt ZDFheute: "Ich denke nicht, dass die Massaker im direkten Auftrag der Übergangsregierung von Ahmed al-Scharaa geschehen sind. Die beiden Brigaden, die für einen Großteil der Massaker verantwortlich gemacht werden, sind die Amshat- und Hamzat-Division. Nominell stehen sie heute unter der Schirmherrschaft der Übergangsregierung, aber de facto übt diese nur eine sehr begrenzte Kontrolle über sie aus." Die Angriffe hätten gezeigt, dass auch die verbliebenen Assad-Kräfte nicht zu unterschätzen seien.

    Welche Folgen haben die Massaker für Syrien?

    Die Opfer von Erschießungen und Plünderungen wurden von den Tätern pauschal zu Unterstützern der früheren Diktatur erklärt. Das stärkt Sorgen von Minderheiten auch jenseits der besonders betroffenen Alawiten: Ist das neue System nur eine Diktatur der Sunniten? Genau dieses Szenario war jahrelang von der Assad-Propaganda verbreitet worden, um die eigenen Reihen gegen jede Form von Opposition zu schließen. Jetzt arbeiten Assad-Unterstützer weiter an einer selbsterfüllenden Prophezeiung; gezielten Provokationen, um eine neue Gewaltspirale auszulösen.

    Ahmed al-Scharaa hatte den Minderheiten mehrfach staatlichen Schutz zugesagt, doch hat sich mit den Massakern nun herausgestellt, dass die Alawiten nicht auf dieses Versprechen bauen können.

    Christoph Leonhardt, Syrien-Experte

    Zwar hat al-Scharaa bereits angekündigt, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, neben Misstrauen in der eigenen Gesellschaft schüren die Menschenrechtsvergehen auch Vorbehalte im Ausland. Dabei ist Syrien auf ein Ende der Sanktionen und milliardenschwere Zuwendungen für den Wiederaufbau angewiesen.
    Jubel in Syrien nach dem Sturz des langjährigen Diktators Baschar al-Assad
    Freiheit nach 13 Jahren Krieg. Euphorie, Schmerz und Misstrauen bestimmen Syrien nach dem Sturz des Assad-Regimes. Eine Reise durch ein Land, das wieder zusammenfinden muss.06.02.2025 | 30:03 min

    Können radikale Gruppen entmachtet werden?

    Der deutsch-syrische Verfassungsrechtler Naseef Naeem fordert deshalb ein weitreichendes Bekenntnis: "Die Übergangsregierung muss sich deutlich von solchen Aktionen und den Milizen, die sie verüben, distanzieren."
    Leicht wird das nicht, denn es gibt einen Wildwuchs an bewaffneten Gruppen in verschiedenen Landesteilen. "Theoretisch gesehen wurden alle Milizen schon aufgelöst und in eine neue Armee integriert. Es wird jedoch lange dauern, diesen Prozess in der Realität zu verwirklichen", sagt Naeem ZDFheute. "Unter den islamistischen Gruppierungen wie unter den Assad-Treuen sind sowohl idiologisch beladene Leute und Kriminelle zu finden." Vielen gehe es darum, alte Pfründe und Einflussgebiete unter Kontrolle zu halten.
    "Ahmed al-Scharaa scheint seine Vergangenheit einzuholen. Seine eigene Gruppe hat seine Wurzeln in al-Kaida und offensichtlich haben Teile seiner Allianz der radikalen Dschihad-Ideologie bis heute nicht abgeschworen" erklärt Leonhardt.

    Um das Land einen zu können wird es zwangsläufig nötig sein, sich dieser radikalen Teile zu entledigen. Al-Scharaa hat in der Vergangenheit bereits bewiesen, dass er dazu grundsätzlich in der Lage ist.

    Christoph Leonhardt, Syrien-Experte

    Bei der Frage von Krieg und Frieden geht es nicht nur um die Machtverteilung in Damaskus. Viele Bürgerkriegsmilizen verfolgen auch eigene, lokale Interessen: Kontrolle über bestimmte Gebiete und ihre Rohstoffe, oder Rivalitäten unter Stammesverbänden. All das wurde jahrelang unter dem Mantel des Bürgerkrieges ausgetragen und auch für diese Teilkonflikte müssen Lösungen gefunden werden.
    Deutscher IS-Anhänger Dirk Pleil im Gefängnis in Nordostsyrien blickt hinter Gefängnistür hervor
    In Nordostsyrien sitzen mehr als 11.000 Mitglieder der Terrororganisation Islamischer Staat in Gefängnissen, darunter auch Deutsche.26.02.2025 | 12:09 min

    Was bringt die Einigung mit den kurdischen Milizen?

    Viele dieser regionalen Konflikte, vor allem im Norden und Osten, betreffen die kurdische Minderheit und das von ihr geprägte Milizbündnis SDF.
    Am Dienstag verkündete ihr Kopf Maslum Abdi die Integration seiner Truppen in die regulären syrischen Streitkräfte. Im Gegenzug garantiert die Regierung den syrischen Kurden ihre vollen Rechte als syrische Staatsbürger. Angesichts jahrzehntelanger Diskriminierung unter Assad und seinem Vater ist das ein Vertrauensbeweis Richtung der neuen Zentralregierung, der eine der größten ungelösten Fragen klärt. Die Einigung sei "wegweisend", so Experte Leonhardt.
    Die früheren SDF könnten in den Streitkräften nun auch einen Gegenpol zu islamistischen Kämpfern bilden.
    Lage in Syrien - Homs
    In Syrien steht die Aufarbeitung der Verbrechen des Assad-Regimes an seiner Bevölkerung gerade erst am Anfang. Könnten sich internationale Gerichte für Gerechtigkeit einsetzen?03.01.2025 | 2:45 min

    Was kann die Gesellschaft jetzt einigen?

    Parallel zu diesen Entwicklungen arbeitet ein von al-Scharaa eingesetztes Expertengremium an einer neuen Übergangsverfassung. Jurist Naeem warnt vor zu hohen Erwartungen:

    Die Ereignisse der letzten Tage haben uns deutlich vor den Augen geführt, wie fragil das syrische Gebilde ist und wie wichtig alle Bemühungen sind, erstmal den Laden zusammen zu halten.

    Naseef Naeem, Verfassungsjurist

    Es brauche jetzt einen ernsthaften Dialog aller Syrer, wie sie in einem Land zusammenleben möchten und was die Grundlagen dafür sind. Naeem ist überzeugt, ein solcher "Gesellschaftsvertrag" aller Bevölkerungsgruppen müsse ausgearbeitet werden, bevor man in die Verfassungsdiskussion einsteige. Leonhardt verweist auf das Acht-Punkte-Abkommen zwischen Damaskus und den SDF-Kurden. Es könne die gesellschaftliche Einheit des ganzen Landes bewahren, weil darin die Beteiligung aller Syrer, unabhängig ihres religiösen oder ethnischen Hintergrunds festgeschrieben werde.
    Die Illusion vom weitgehend unblutigen Übergangs in Syrien zwar ist dahin, aber zeitgleich hat sich eine Tür für gesellschaftlichen Ausgleich geöffnet. Sollte Syriens neue Ordnung trotzdem irgendwann scheitern, wird man auf die Ereignisse der vergangenen Tage als zentrale Wegmarke zurückblicken.

    Abkommen mit SDF
    :Syriens Führung einigt sich mit Kurden

    Nach dem Machtwechsel in Syrien hat die Übergangsregierung ein Abkommen mit der kurdischen Führung im Nordosten des Landes geschlossen. Ein Wendepunkt für das Bürgerkriegsland?
    SDF-Oberkommandeur Mazloum Abdi und Ahmed al-Sharaa, Präsident der Übergangsregierung, geben sich die Hand.
    mit Video
    Thema

    Mehr zu Syrien