Anfang Dezember veröffentlichte die "Washington Post" einen zweiteiligen Artikel, der auf Interviews mit Beteiligten über die Sichtweise der
USA und der
Ukraine zur Gegenoffensive beruht.
Erste Bilanzen für die ukrainische Seite
Auch wenn sich die beiden Darstellungen in einigen Details unterscheiden, so lassen sich doch bereits einige Lehren aus ihnen ziehen, die zum Verständnis der Frage beitragen können, wie die mit Spannung erwartete Gegenoffensive der Ukraine zu so unterschiedlichen Ergebnissen führen konnte, als ursprünglich erwartet.
Aus der Einschätzung von Saluschnyj und der "Washington Post" geht klar hervor, dass sowohl die USA als auch die Ukraine die Schwierigkeiten beim Durchbrechen der gut ausgebauten russischen Befestigungslinien in der Region Saporischschja unterschätzt haben.
Beispiel für einen Frontverlauf
Wie kann man sich einen Frontverlauf im Ukraine-Krieg vorstellen? Die russische Armee schützt sich mit einer kilometerweiten Anlage, um gegen die Ukraine vorzurücken.
Quelle: ZDF
Zwar gab es sowohl zwischen Washington und Kiew als auch zwischen den verteidigungspolitischen Eliten der USA Debatten, doch das Ergebnis blieb dasselbe: Russlands Abwehrkräfte wurden grob unterschätzt.
Folglich waren die ursprünglich gesetzten Ziele, sie zu durchbrechen und schnell
das Asowsche Meer und die Krim zu erreichen, überhaupt nicht realistisch.
Grenzen bei Informationsgewinnung
Dies wirft ein Licht auf eine weitere Lektion: die Grenzen des Sammelns und des
Austauschs von Geheimdienstinformationen. Es ist noch immer unklar (und wird es wahrscheinlich noch lange bleiben), was genau die Ukraine und die USA über die russische Verteidigung wussten und wie viele Informationen sie untereinander austauschten.
Es ist jedoch davon auszugehen, dass, wenn eine der beiden Seiten mit Sicherheit gewusst hätte, dass die angesammelten Kräfte nicht ausreichten, um die stark befestigten russischen Linien zu durchbrechen, diese Information an die Verbündeten weitergegeben worden wäre.
Wahrscheinlich wurde vor allem das
Ausmaß der russischen Minenfelder unterschätzt, aber auch die Fähigkeit Russlands, diese wieder zu verlegen. Man kann nur hoffen, dass sowohl die Ukraine als auch die USA bereits analysieren, welche nachrichtendienstlichen Methoden sie bei der Planung der Gegenoffensive angewandt haben und wo die weißen Flecken waren.
USA in zentraler Unterstützerrolle
Bemerkenswert ist, dass in keinem der Artikel ein anderes Land als die USA und bis zu einem gewissen Grad Großbritannien erwähnt wird, das an der Planung der Gegenoffensive der Ukraine beteiligt war.
Allerdings werden die Briten nur im Zusammenhang mit Wargaming-Übungen und der Ausbildung ukrainischer Truppen erwähnt, während die USA die dominierende Rolle spielen. Ob andere Länder an der Planung der Gegenoffensive beteiligt waren, ist bisher nicht bekannt.
Ukraine keine Marionette der USA
Was die Planung anbelangt, so ist eine weitere Lehre aus diesen Berichten der Beteiligten, dass die Ukraine in diesem Krieg tatsächlich ein unabhängiger Akteur ist, unabhängig von der militärischen, politischen und wirtschaftlichen Hilfe, die sie vom Westen erhält. Manchmal widersprach Kiew den USA, während es in anderen Fällen einfach keine Informationen weitergab und nicht einmal den Hörer abnahm.
Diese Darstellung widerlegt die gängige
russische Propagandabehauptung, die Ukraine sei nur eine Marionette der USA. Wie diese Artikel beweisen, ist das Gegenteil der Fall, und die Beziehung ist weit weniger hierarchisch, als man uns in Moskau glauben machen will.
Die Ukraine wehrt sich weiter gegen Russlands Angriff - zuletzt scheint die Lage an der Front zu stocken. Expertin Major erklärt, welche Erfolge Kiew bisher verbuchen kann.14.11.2023 | 5:38 min
Ukraine hat Fähigkeit zu Planänderungen bewiesen
Beide Artikel bestätigen auch die Anpassungsfähigkeit der Ukraine: Als klar wurde, dass der ursprünglich geplante, mechanisierte Durchbruch nicht realisiert werden konnte, ging die Ukraine rasch zu einer ressourceneffizienteren, wenn auch viel langsameren Taktik über und führt diese seither durch.
Mit anderen Worten: Kiew hat nicht an einer offensichtlich gescheiterten Taktik festgehalten, als das Scheitern offensichtlich wurde. Anders als die russische Armee hat die Ukraine also bewiesen, dass sie in der Lage ist, sich schnell auf unerwartete, unvorhergesehene Schwierigkeiten einzustellen.
Ukrainische Kriegsanstrengungen generell nicht gescheitert
Obwohl beide Berichte zu dem Schluss kommen, dass die Gegenoffensive ihre ursprünglichen Ziele nicht erreicht hat, erklärte keiner der befragten Insider, dass die Ukraine besiegt worden wäre oder so katastrophale Verluste erlitten hätte, dass Kiew zur Kapitulation gezwungen gewesen wäre.
Mit anderen Worten: Das Scheitern der Gegenoffensive ist nicht gleichbedeutend mit dem Scheitern der ukrainischen Kriegsanstrengungen als Ganzes. Zwar hat die Gegenoffensive die Erwartungen nicht erfüllt, doch bedeutet dies "nur" eine verlorene Schlacht, nicht aber einen verlorenen Krieg. Daher kann man General Saluschnyj nur zustimmen: Wahrscheinlich steht uns ein langer Krieg bevor.
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Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.