Die Ampel-Koalition entzweit sich öffentlich über Nord Stream 2. Der Streit belastet die Reisen von Außenministerin Annalena Baerbock nach Kiew und Moskau.
In Berlin hat sich etwas geändert. Botschafter Misiulis ist es beim Lesen der deutschen Zeitungen aufgefallen, die jeden Morgen als dicker Packen in der Botschaft der Republik Litauen angeliefert werden. Noch nie habe er so viele kritische Kommentare über Nord Stream 2 gelesen wie in den vergangenen Wochen:
Ramunas Misiulis ist seit etwas mehr als einem halben Jahr Litauens Botschafter in Berlin und hält die Signale für unübersehbar. Vielleicht beginnen die Deutschen ja doch noch, die Pipeline realistisch zu sehen.
Litauens Botschafter: NS2 für Putin mehr als ein Wirtschaftsprojekt
Die Beharrlichkeit, mit der deutsche Abgeordnete, Ministerpräsidenten und Bundeskanzler versuchen, das größte Infrastrukturprojekt Europas zu einem rein "privatwirtschaftlichen Vorhaben" kleinzureden, hat Misiulis nie verstanden.
Auch seine Kollegen aus den anderen baltischen Staaten, aus Polen und der Ukraine werden nicht müde, die deutsche Öffentlichkeit auf den geopolitischen Charakter der Ostsee-Pipeline aufmerksam zu machen. Für Putin sei Nord Stream 2 viel mehr als ein Wirtschaftsprojekt, sagt Botschafter Misiulis.
Misiulis: Russland hat Ukraine wegen Pipeline im Visier
Die Röhre sei "die Voraussetzung für ein weiteres aggressives Vorgehen gegenüber der Ukraine". Das Argument der Ost-Europäer: Noch sei Russland darauf angewiesen, sein Erdgas durch Pipelines in die EU zu transportieren, die durch die Ukraine führen.
Mit einem Angriff auf das Nachbarland würde der Kreml riskieren, dass diese Leitungen zerstört werden. Erst die Umgehung der Ukraine durch den zweiten Strang der Ostsee-Pipeline eröffne Russland die Möglichkeit, in das Nachbarland vorzurücken, ohne seine wichtigen Export-Einnahmen zu gefährden.
Wachsender Widerstand gegen Nord Stream 2
Dass die Grünen, die FDP und große Teile der CDU diese Bedenken teilen, kann die osteuropäischen Botschafter nicht beruhigen. Denn Bundeskanzler Olaf Scholz und seine SPD bestehen auf der Formel vom "privatwirtschaftlichen Vorhaben".
Wenn Außenministerin Annalena Baerbock heute nach Kiew und morgen nach Moskau reist, muss sie befürchten, dass die widersprüchliche Haltung der Bundesregierung zu Nord Stream 2 ihre Appelle und Warnungen überschattet.
Ampel-Koalition uneinig über Pipeline
Zwar versuchen die Regierungsmitglieder den Eindruck von Geschlossenheit aufrechtzuerhalten, aber zwischen den drei Ampel-Parteien rumpelt es öffentlich.
Spätestens seit SPD-Generalsekretär Kevin Kühnert den Gegnern von Nord Stream 2 vorgeworfen hat, "internationale Konflikte herbeizureden", um das Projekt zu beerdigen, haben zahlreiche Parlamentarier von Grünen und FDP ihre bisher geübte Zurückhaltung aufgegeben.
Lagodinsky: Keine naive Russlandpolitik
Der Europaabgeordnete der Grünen Sergey Lagodinsky warnt die SPD davor, sich zu "nützlichen Idioten des Kreml" zu machen. Deutschlands Russlandpolitik müsse den Dialog suchen, aber dürfe bei diesen Bemühungen nicht naiv sein:
Die FDP-Bundestagsabgeordnete Renata Alt weist darauf hin, dass Nord Stream 2 nicht nur in Russland, sondern auch in den USA als geopolitisches Projekt gesehen werde: "Es redet hier niemand internationale Konflikte herbei."
SPD: Genehmigung liegt bei Netzagentur
Die SPD argumentiert, dass den Betreibern von Nord Stream 2 bisher jeder Schritt genehmigt worden sei. Das Konsortium unter der Führung von Gazprom müsse sich auf Recht und Gesetz verlassen können.
Die Entscheidung über die Betriebsgenehmigung liege keineswegs in den Händen der Politik, sondern allein bei der Bundesnetzagentur.
Für Aktivist*innen von Fridays for Future Fossile haben Energieträger wie Erdgas keine Zukunft mehr.
Schwesig: Russland ein "zuverlässiger Partner"
Russland sei ein "zuverlässiger Partner", betont Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin Manuela Schwesig. Man müsse den innerdeutschen Pipeline-Streit "auch mal hinter sich lassen", fordert Kevin Kühnert. Botschafter Misiulis ruft:
Nicht nur die Haltung der Bundesregierung regt den Diplomaten auf, sondern auch das Gefühl, nicht gehört zu werden. Über die Nachbarschaftserfahrungen der osteuropäischen EU-Länder müsse in Deutschland mehr gesprochen werden.
Misiulis: "Nicht die Fehler von 1938 wiederholen"
Misiulis will die hiesige Öffentlichkeit aufrütteln. Ganz bewusst wählt er einen Vergleich, der normalerweise als unsagbar gilt: "Die Geschichte zeigt, dass eine Politik der Beschwichtigungen nur weitere Aggressionen provoziert. Deswegen sollten wir heute nicht die Fehler von 1938 wiederholen."
- Nord Stream 2
An den Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 wurden nach Beginn des russischen Kriegs gegen die Ukraine Lecks festgestellt. Russland bestreitet, für Sabotage vera...