Die Lage im Libanon war schon vor der Explosion katastrophal, jetzt nehmen Elend und Gewalt zu. Es drohen bürgerkriegsähnliche Zustände, so der Gründer von Orienthelfer e.V.
Nach gewaltigen Detonationen in Beirut hat die libanesische Regierung einen zweiwöchigen Ausnahmezustand für die Stadt ausgerufen. Nach Regierungsangaben gab es mindestens 135 Tote.
Die Menschen im Libanon sind seit Jahren in einer scheinbar ausweglosen Situation zwischen Armut und Frust gefangen. Ihre Hilflosigkeit und ihre Wut werden nach der schweren Explosion in Beirut steigen - und das mit gefährlichen Folgen, so der Kabarettist Christian Springer, der sich seit Jahren in der Region engagiert.
ZDFheute: Wie ging es den Menschen im Libanon vor der Explosion?
Christian Springer: Es gibt seit Jahren eine politische und wirtschaftliche Krise. Erst vor 48 Stunden ist der Finanzminister zurückgetreten, Menschen können kein Geld mehr von den Banken abheben, die Währung ist komplett zusammengebrochen, Menschen sind arbeitslos geworden in einem unfassbaren Ausmaß. Dieses Land verarmt, Libanesen hungern.
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ZDFheute: Im Oktober 2019 gab es noch große Proteste gegen die Regierung.
Springer: Bei den Demonstrationen im Oktober hielten die Menschen noch fest zusammen und forderten geschlossen einen Regierungswechsel, aber dieser Zusammenhalt, diese Euphorie, diese Solidarität ist aufgrund der Not komplett zusammengebrochen - und jetzt noch diese Explosion.
Verletzte Anwohner, umgeworfene Autos, die Straßen mit Schutt übersät - Augenzeugen berichten.
ZDFheute: Seit Beginn des syrischen Bürgerkriegs 2011 sind über eine Million Menschen in den Libanon geflüchtet, jeder sechste Einwohner dort ist ein Geflüchteter. Wie sind die Lebensumstände dieser Menschen?
Springer: Geflüchtete sind im Libanon in komplette Armut geraten. Die Zustände in den Lagern sind katastrophal, die Menschen sind zu einhundert Prozent auf Almosen angewiesen, sie liegen teilweise mit Verletzungen und Krankheiten einfach herum, weil sie keine Möglichkeit haben, in ein Krankenhaus zu kommen. Der Frust nimmt zu, dadurch nimmt die Gewalt zu - vor allem auch gegenüber Frauen - und es herrschen rechtlose Räume.
Zurück nach Syrien können sie nicht. Sie müssen sogar Geld zahlen, wenn sie zurück wollen und werden vom syrischen Regime oft einfach irgendwohin deportiert.
Hinzukommen gesellschaftliche Konflikte: Die libanesische Bevölkerung achtet immer mehr darauf, dass die syrischen Flüchtlinge ja nicht mehr Unterstützung bekommen als die verarmenden Libanesen. Es geht einfach allen schlecht.
ZDFheute: Wie gut ist das libanesische Gesundheitssystem?
Springer: Das Gesundheitssystem im Libanon funktioniert nach dem Motto: No cash, no treatment. Einst war die Medizin im Libanon eine ganz zentrale Säule. Leute kamen aus den Golfstaaten, um sich die Oberweite machen zu lassen oder die Lippen aufzuspritzen. Während des Syrienkrieges wurden sehr viele Verletzte in den Libanon gebracht, weil die Chirurgen dort spezialisiert waren, Körper zu reparieren. So hat man in den Krankenhäusern ISIS-Offiziere, neben syrischen Offizieren, neben Revolutionären behandelt.
Das alles ist jetzt eingebrochen - zuerst durch die Wirtschaftskrise, dann durch Corona - und jetzt diese Katastrophe. Eine Bekannte, die ein Krankenhaus in Beirut leitet, erzählte mir nach der Explosion, dass innerhalb von sechzig Minuten 400 Verletzte hergebracht wurden und sie wussten nicht mehr, wohin mit den Menschen. Sie lagen teilweise blutend und wartend auf dem Parkplatz.
Wie es zu den Explosionen kommen konnte, darüber spricht Nahost-Korrespondent Uli Gack.
ZDFheute: Wenn herauskommen sollte, dass unsachgemäß hochexplosive Materialien gelagert wurden: Wie wird die Bevölkerung reagieren?
Springer: Angeblich war es eine Explosion von einer riesigen Menge Ammoniumnitrat. Es ist seit 2011 verboten, das zu lagern und schon gar nicht in dieser Größenordnung.
Wenn es auch stimmt, dass dieses Lager teilweise auf einem Grundstück stand, das von der Hisbollah verwaltet wird, die bei uns auf der Terrorliste steht, aber im Libanon eine wichtige politische Rolle spielt, dann droht hier auch ein politisches Erdbeben.
ZDFheute: Was ist Ihre größte Befürchtung?
Springer: Man wird sehr bald fragen: Wer war es und warum ist das passiert? Je mehr Verschwörungstheorien es gibt, desto aufgeheizter wird die Stimmung. Man hat in den letzten Wochen vor dieser Explosion im Libanon keine Waffen mehr kaufen können. Nicht, weil man pazifistisch geworden ist, sondern weil sich der gesamte Libanon mit Waffen ausgestattet hat. Der Preis für eine Patrone ist in die Höhe geschnellt.
Dieses Land ist bewaffnet und wenn die Schockreaktion vorbei ist, ist eine große Sorge, dass man schlimme Gewaltausbrüche erleben wird. Womöglich eine Gewalt, die nicht einmal etwas mit Politik zu tun hat, sondern mit Menschen, die in ihrem Leid und ihrem Hunger feststecken. Und die sind seit gestern Abend um einige Tausend mehr geworden.
ZDFheute: Was ist Ihre Hoffnung?
Springer: Jeder Mensch, der im Libanon älter als 30 Jahre alt ist, hat als Kind noch den Bürgerkrieg erlebt. Die Erinnerung an einen Zustand, in dem man alternative Lösungen finden muss, um zu überleben, haben die Libanesen leider im Blut. Aber in solchen Situationen hilft das natürlich: Der Wille zum Weitermachen in diesem Land ist bewundernswert.
Das Interivew führte Jenifer Girke. Auf Twitter folgen: @JeniferGirke.
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