Das Chaos an der polnisch-belarussischen Grenze macht deutlich: Die EU ist überfordert und zerrissen. Im Umgang mit Polen steckt sie in einem Dilemma.
Eins hat der belarussische Diktator Alexander Lukaschenko schon geschafft: die EU vorzuführen.
Als eine Union, die Menschlichkeit predigt und gleichzeitig zusieht, wie an ihren Außengrenzen Migranten brutal zurückgeschoben werden. Und als eine Union, die überfordert ist mit dem Ansturm von ein paar Tausend Menschen, weil es noch immer kein europäisches Asylsystem gibt. Und jetzt zieht auch noch ein Streit über die Finanzierung des von Polen gewünschten Grenzzauns herauf.
Wie umgehen mit Polens Grenzpolitik? Die EU ist gespalten
Aber der Reihe nach. Charles Michel, EU-Ratspräsident und als solcher Vertreter der 27 EU-Mitgliedsstaaten reist Mittwochmittag überraschend nach Warschau und trifft den polnischen Premierminister Mateusz Morawiecki. Beide Politiker verurteilen den "Staatsterrorismus" und "Menschenschmuggel" des belarussischen Diktators. Soweit, so einig.
Die ganze EU stehe hinter Polen, stellt Morawiecki fest, einschließlich der Nato. Die ganze EU? Richtig ist vielmehr, dass die EU gespalten ist. Die EU-Kommission und einige Mitgliedsstaaten beobachten mit wachsendem Missfallen, wie die polnische Regierung offenbar Menschen, die es auf polnisches Territorium geschafft haben, zurückschiebt.
Polen lehnt Hilfe der EU ab
Seit Wochen versucht EU-Innenkommissarin Johansson Hilfe anzudienen, die EU-Grenzschutztruppe Frontex könnte unterstützen, ebenso europäische Asylexperten. Aber Polen weigert sich, auch dieses Mal. Offenbar wünscht die Regierung keine Zeugen für das, was an der polnisch-belarussischen Grenze geschieht.
Die Fünf-Kilometer-Sperrzone, in die weder Ärzte noch Journalisten hineinkommen, helfe um Provokationen zu vermeiden, behauptet Morawiecki. Und Charles Michel, der Europäer, steht daneben und schweigt.
Und dann kommt die Frage, ob Brüssel denn für einen Grenzzaun bezahlen werde. Michel sagt weder ja noch nein, nur soviel: Rechtlich möglich sei das, aber entscheiden müsse die EU-Kommission.
Migration bleibt Streitthema
Ursula von der Leyen, EU-Kommissionspräsidentin, ist unterdessen zu Besuch im Weißen Haus in Washington. Auch hier ist Belarus eins der Themen, auch hier viel Kritik an Lukaschenkos "geopolitischem Machtspiel" und kein Wort zum Verhalten des EU-Mitgliedslands Polen. Ob die Kommission denn nun Geld gebe für eine Grenzmauer?
"Ich habe ausführlich mit den drei Premiers (von Litauen, Lettland und Polen) gesprochen und habe explizit nochmal gefragt, ob weitere Hilfe nötig ist, aber im Augenblick ist die Zusammenarbeit auf diesem Niveau sehr gut."
Sagt von der Leyen und meint damit wohl: kein Geld für Stacheldraht. Tatsächlich aber hatten sich beim letzten Innenminister-Treffen 12 von 27 Ländern für eine Geld-für-Grenzzaun-Lösung ausgesprochen. Die ungelöste Frage der Migration bleibt ein zersetzendes Gift für Europas Einheit.
Neue Sanktionen gegen Belarus
Einig dagegen ist die EU beim Thema Strafmaßnahmen gegen Belarus, wenigstens hier ist es Lukaschenko nicht gelungen einen Keil in die Union zu treiben. Mit - für europäische Verhältnisse - Lichtgeschwindigkeit arbeiten die 27 EU-Botschafter an einem fünften Sanktionspaket, mit dem sie mittelfristig versuchen wollen, die Schlepperflüge aus den Herkunftsländern zu stoppen.
Im Visier ist nicht nur die staatliche belarussische Airline Belavia, die immer noch ungehindert die Hälfte ihrer Flugzeuge aus dem EU-Land Irland least. Sondern auch andere Fluggesellschaften wie Turkish Airlines oder Emirates, die teilweise mehrmals täglich in Minsk landen.
Der für Migration zuständige EU-Kommissionsvize Margaritis Schinas macht sich am Wochenende auf, um in die Herkunfts- und Transitländer zu reisen, und deren Regierungen zu überzeugen, Schleuserflüge nach Minsk zu stoppen. Es könnte die einzige Chance sein, um die EU aus ihrem Dilemma zu befreien.