Seit Monaten gehen die Menschen in Belarus auf die Straße. Gegen Machthaber Lukaschenko und für die Freilassung politischer Gefangener. Eine von ihnen: Maria Kolesnikowa.
Das Jahr 2020 werden viele Belarussinnen und Belarussen nicht vergessen. Es wird als das Jahr in die Geschichtsbücher eingehen, in dem ein Großteil der Menschen in Belarus mit dem brutalen Langzeitherrscher Alexander Lukaschenko gebrochen hat. Für uns im ZDF-Studio Moskau waren die Proteste in Russlands Nachbarland das Hauptnachrichtenthema 2020.
Schockiert hat uns immer wieder die Gewalt, mit der das Lukaschenko-System gegen friedliche Demonstranten vorging, wie Oppositionelle aus dem Land gejagt oder ins Gefängnis gesteckt wurden. Mit der Oppositionspolitikerin Maria Kolesnikowa haben wir in Minsk immer wieder Interviews geführt, bis zum 7. September 2020, der Tag an dem sie verhaftet wurde. Über ihre Anwältin konnten wir ihr nun im Gefängnis ein paar Fragen stellen.
ZDFheute: Frau Kolesnikowa, wie geht es Ihnen im Gefängnis?
Maria Kolesnikowa: Für mich als Nichtraucherin ist es ein Problem und bedingt auch eine Gefahr für die Gesundheit, dass alle hier rauchen. Das Wichtigste ist aber der psychologische und emotionale Zustand. Und der ist gerade vollkommen in Ordnung.
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ZDFheute: Wie hart ist die Zeit in der Haft, wie verbringen Sie die Zeit?
Kolesnikowa: Ich bin ein sehr aktiver Mensch, da ist es natürlich schwer, sich in einem abgegrenzten Raum zu befinden. Aber ich habe ab den ersten Tagen beschlossen und gedacht, dass das Gefängnis eine neue Erfahrung ist, eine neue Lektion des Lebens und keine Tragödie. Und ich bemühe mich, auf maximal nützliche Weise diese Zeit zu nutzen. Ich studiere und lerne selbst hier und werde jeden Tag besser: Neue Bücher sind neues Wissen. Sport, jeden Tag, und neue Ideen und neue Projekte. The show must go on!
ZDFheute: Können Sie bzw. werden Sie weiter noch politisch aktiv sein?
Kolesnikowa: Dies ist eine schwierige Frage. Bei mir hat sich, so wie bei den meisten Belarussen, innerhalb einer sehr kurzen Zeit eine sehr rasante Transformation vollzogen.
Ich habe viel gelernt und Erfahrungen gesammelt, die ich in der Zukunft unbedingt anwenden möchte.
ZDFheute: Haben Sie Hoffnung, bald wieder frei zu kommen?
Kolesnikowa: Ich denke, keiner weiß, wann er in Belarus freigelassen werden kann. Vielleicht morgen, in anderthalb oder in fünf Jahren als maximale Haftstrafe entsprechend meinem Artikel des Strafgesetzbuches.
Als man versucht hatte, mich gewaltsam aus dem Land zu deportieren, hatte man mir eine Haftstrafe von 25 Jahren angedroht. Selbst das hatte mich nicht aufgehalten.
In Belarus gibt es gegenwärtig 160 politische Häftlinge. Jeder von ihnen hat sich für das Land auf das Risiko eingelassen. Sie alle sind unschuldig.
Drei Frauen traten bei den Wahlen in Belarus für die Opposition an. Maria Kolesnikowa wird jetzt vermisst. Wer dahinter steckt, ist noch unklar.
ZDFheute: Wie kann es für die Opposition und die Menschen in Belarus weitergehen?
Kolesnikowa: Nur zusammen, nur weiter voran. Kleine Schritte führen zu großen Siegen. Wir haben innerhalb eines halben Jahres einen unwahrscheinlich großen Sprung vollzogen und durchlaufen eine schwierige Transformation als Zivilgesellschaft. Die Tagesordnung für die Verhandlungen ist sehr wichtig. Wir müssen das Regime zu Veränderungen zwingen.
Ich schreibe immer in Briefen: Liebe ist stärker als Angst und stärker als ein Gefängnis, stärker als die Gefängnismauern und Gitter. Liebe kennt keine Grenzen.
Viele Grüße an das deutsche Volk und ein großes Dankeschön für die Unterstützung. Ich habe in Deutschland viel gelernt. Sowohl als Künstlerin, als auch als Bürgerin. Die Freiheit ist ein Prozess und kein Endpunkt.
ZDF-Korrespondent Christian Semm aus Moskau ist für das Interview verantwortlich.