Im Fall Nawalny treten die Konflikte zwischen Russland und dem Westen offen hervor. Ein Interview über den Groll vieler Russen auf Putin und die Sünden der deutschen Politik.
ZDFheute: Herr Fücks, wie steht es um die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland?
Ralf Fücks: Wir sind in einer neuen Phase unserer Beziehungen. Der Ton auf russischer Seite wird rauer, die Konflikte treten offener hervor. Das ist sicher nicht allein auf die Vergiftung und Verurteilung von Alexej Nawalny zurückzuführen. Aber vielleicht haben die Causa Nawalny und das brutale Vorgehen gegen die Protestbewegung in Russland manchen die Augen geöffnet, die bisher nicht sehen wollten, mit welchem Regime sie es zu tun haben.
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ZDFheute: Womit haben wir es denn zu tun?
Fücks: Das System, das Wladimir Putin errichtet hat, ist eine autoritäre Kleptokratie. Politische Macht dient als Lizenz, sich im großen Stil zu bereichern. Alles dreht sich um Geld und Machterhalt. Das hat Nawalnys Video auf den Punkt gebracht. Dagegen gehen immer mehr Menschen auf die Straße.
ZDFheute: Hat der Kreml die Situation unter Kontrolle?
Fücks: Die Furcht vor Kontrollverlust erklärt die neue Härte der Repression. Die Legitimation des Regimes speiste sich bislang aus zwei Quellen: Einem übersteigerten Nationalismus, der nach dem Verlust des Weltmachtstatus den Bürgern das Gefühl "Wir sind wieder wer" gab - die Annexion der Krim war dabei die Krönung. Dazu kam eine bescheidene Zunahme des Lebensstandards. Beides funktioniert nicht mehr. Die Droge Nationalismus kann die sozialen Missstände nicht mehr betäuben. Die Einkommen stagnieren oder gehen sogar zurück, seit die Ölpreise gesunken sind. Am Schluss bleiben dem Machtapparat nur Repression und Polizeigewalt.
ZDFheute: Viele vergleichen den Fall Nawalny mit dem des Whistleblowers Julian Assange. Letzterem werde alle Unterstützung verweigert. Misst der Westen mit doppelten Standards?
Fücks: Das ist ein schiefer Vergleich. Ich halte Assange nicht für einen Helden der Demokratie. Dennoch bekommt er ein rechtsstaatliches Verfahren. Das ist der Unterschied zu Nawalny. Es geht gerade nicht darum, Russland mit anderen Maßstäben zu messen, sondern um die Anwendung gleicher rechtsstaatlicher Standards. Russland hat sich dazu als Mitglied des Europarates verpflichtet. Doch die demokratischen Grundrechte finden immer weniger Beachtung. Nach den neuen Gesetzen müssen auch Privatpersonen, die Kritik äußern, mit Strafverfolgung rechnen. Putin errichtet ein Regime der Angst.
ZDFheute: Rechnen Sie damit, dass Deutschland seine eher vorsichtige Haltung aufgibt?
Fücks: Es geht um die Bereitschaft, sich Konflikten zu stellen. Die ist gegenüber Russland nicht sehr ausgeprägt. Zum einen hemmt das Schuldbewusstsein wegen der Massenverbrechen der Nazis die Bereitschaft, gegenüber dem Kreml klare Kante zu zeigen. Merkwürdigerweise gibt es keine ähnlichen Sympathien gegenüber anderen Ex-Sowjetstaaten. Dazu kommen die Wirtschaftsinteressen mehrerer tausend deutscher Firmen, die im Russlandgeschäft aktiv sind und keine Sanktionen wollen.
Außerdem verschließen sich große Teile der deutschen Politik der Kategorie des Gegners. Es herrscht eine kollektive Realitätsverweigerung, Putins Regime als Gegner des demokratischen Europas zu sehen. Man will lieber "Wandel durch Annäherung" betreiben - eine illusionäre Phrase, die weder gegenüber Russland noch gegenüber China wirkt. Man vergisst, dass die Ostpolitik Willy Brandts auf der Einbindung in die Nato und die Fähigkeit zur Abschreckung beruhte, also auf einer Politik der Stärke.
ZDFheute: Welche Rolle spielt dabei die Gaspipeline Nord Stream 2?
Fücks: Das Projekt ist einer der größten Sündenfälle der deutschen Politik in den vergangenen 15 Jahren. Man muss sich erinnern, dass die Verträge unterzeichnet wurden, nachdem Russland die Krim schon annektiert und den unerklärten Krieg in der Ostukraine begonnen hatte. Nord Stream 2 ist in seinem Kern eher ein geostrategisches als ein energiewirtschaftliches Projekt. Sein Ziel ist es, die Ukraine und Polen aus dem Gastransit auszuschalten. Dass die Bundesregierung so hartnäckig am Bau festhält und ihn gegen alle Einwände unserer europäischen Partner verteidigt, unterstreicht nur die tief verankerten Sonderbeziehungen zu Russland.
ZDFheute: Wie sollten sich Deutschland und der Westen gegenüber Russland verhalten?
Fücks: Der Westen muss weiterhin für eine Zusammenarbeit mit Russland bereit sein. Aber wenn sich der Kreml nicht an die Regeln des gemeinsamen europäischen Hauses hält, auf die er sich verpflichtet hat, sind Sanktionen unerlässlich.
Das Interview führte Artur Lebedew.