Im Kampf zwischen Autoritarismus und liberaler Demokratie hat die Regierung Biden eine neue Werkzeugkiste entdeckt. Jetzt dreht sie mit ihren Bündnispartnern den Spieß herum.
Der Begriff kommt nicht von mir. Von "Speed Dating" redet der 'hochrangige Regierungsmitarbeiter' – so dürfen wir ihn nur nennen – um zu beschreiben, wie intensiv Joe Biden sich involviert auf jedem Abschnitt dieser Reise zur Festigung des Bündnisses gegen Wladimir Putins Aggression.
Die Worte fallen an Bord von Air Force One, dem Präsidentenjet, im Anflug auf das polnische Rzeszow, wo Biden an diesem Freitag Flüchtlingshelfer und US-Soldaten treffen will. Wir sind von Warschau aus per Telefon live zugeschaltet beim sogenannten Press-Gaggle, dem informellen Gespräch mit den sechs bis zehn Journalisten, die mit in der Maschine sind.
Speed-Dating mit Joe Biden
"Da vorne in der Kabine sitzen all die Experten und machen 'Speed-Dating' mit dem Präsidenten über jedes mögliche Thema unter der Sonne." So sei es auch am Boden in Brüssel, Rzeszow, Warschau. Biden schlafe wenig, so der Berater, immer noch ein Briefing, noch ein Gesprächspartner - sogar beim Essen.
Die Themen reichten von der Küstenverteidigung der Ukraine über die drohende Nahrungsmittelkrise bis zu der Anzahl der Milliarden von Kubikmetern Gas an Ersatzlieferungen für Europa. Und das alles wegen Bidens "tiefer persönlicher Überzeugung vom transatlantischen Bündnis und der transatlantischen Gemeinschaft, ihrer Vergangenheit, ihrer Gegenwart, ihrer Zukunft."
Es klingt schmalzig, aber lässt man mal weg, dass ein Regierungsmitarbeiter seinen Chef gut verkaufen will, bleibt ein 79-jähriger Präsident, der tatsächlich unermüdlich arbeitet, und das hat einen Grund: Er muss die Allianz zusammenhalten, um etwas zu beweisen.
Kampf zwischen Autoritarismus und Demokratie
Die Biden-Administration hat eine neue Werkzeugkiste entdeckt für ihr bis vor kurzem recht abstraktes Konzept vom globalen Kampf zwischen Autoritarismus und liberaler Demokratie. Mit seiner brutalen und menschenverachtenden Invasion hat ausgerechnet Putin den Impuls geliefert, ohne den Bidens hehre Worte von einer moralischen Außenpolitik insbesondere nach dem Chaos beim Afghanistan-Rückzug weiter hohl geklungen hätten.
Jetzt dreht die US-Regierung gemeinsam mit ihren Bündnispartnern den Spieß herum. Nachdem autoritäre Regime wirtschaftliche Abhängigkeit bisher genutzt hatten, um andere Länder zu erpressen und die westliche Wertegemeinschaft zu spalten, nutzt letztere die wirtschaftliche Abhängigkeit nun, um den Autoritarismus in die Knie zu zwingen.
Machtvolles Werkzeug gegen Wladimir Putin
"Es ist ein neues Konzept, ein unglaublich machtvolles Werkzeug", sagte mir einer der engsten Mitarbeiter Bidens im Verlauf dieser Reise, "aber es erfordert absolute Einigkeit". Deshalb hatte der Präsident den Dreifachgipfel vorgeschlagen, deshalb reiste er auch noch an die Front – denn das ist Polen in dieser großen Auseinandersetzung.
Jedes Schlupfloch bei den Sanktionen soll jetzt verschlossen werden, jede andere, autoritäre Regierung, allen voran die in China, einen hohen Preis bezahlen, wenn sie Russland beispringt. Die Ostflanke der Nato wird massiv verstärkt, bis Juni eine neue Strategie geschmiedet. Die Hilfe an die Ukraine wird intensiviert, ohne zu verraten, welche Waffen wie genau dorthin gelangen. Mit gemeinsamen Anstrengungen sollen Nahrungsmittel- und Energieknappheit abgefedert und den Flüchtlingen langfristig geholfen werden.
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Idee Bidens hat auch in Deutschland gezündet
Man kann zu Recht vieles kritisch sehen an Joe Biden, aber ohne diesen US-Präsidenten wären die gerade beschriebenen Ergebnisse kaum vorstellbar, mit einem Donald Trump an seiner Stelle sogar absolut unmöglich.
Die Idee, dass die wirtschaftlichen Abhängigkeiten in einer globalisierten Welt auch mal zum guten Zweck genutzt werden können, wenn man zu Geschlossenheit entschlossen ist, hat auch in Deutschland gezündet, sagen Bidens Vertraute.
Offenbar verwies die Bundesregierung die chinesische Führung unmissverständlich auf dramatische Folgen für Chinas Wirtschaft, wenn sie sich auf die Seite eines Aggressors schlage, der in Europa wütet.
- "Dieser Mann darf nicht an der Macht bleiben"
US-Präsident Biden hat den Ukrainern Unterstützung in ihrem Kampf für Freiheit und Demokratie zugesagt. Die Ukraine werde nie ein Sieg für Russland sein, sagte er in Warschau.
US-Präsident hält historische Rede in Polen
Alles lief also eigentlich ziemlich gut für Joe Biden. Auch die Rede am Samstag in Warschau: historisch. "Habt keine Angst", zitierte der US-Präsident den polnischen Papst Johannes Paul II. und erinnerte die Menschen in Russland an den Kampf um ihre Freiheit gegen das Nazi-Regime im Zweiten Weltkrieg und die Menschen in Osteuropa an den Kampf um die Freiheit gegen die sowjetische Unterdrückung.
Und dann – vermutlich in der Emotion des Moments – weicht Biden vom Manuskript ab, als er über Wladimir Putin redet: "Um Gottes Willen, dieser Mann darf nicht an der Macht bleiben." Seine Berater rudern kurz danach zurück.
Nein, der Präsident habe nicht zum Sturz Putins aufgerufen, sondern nur gemeint, Putin dürfe keine Macht über seine Nachbarn ausüben. Aber der Kremlchef kann nun behaupten, der Westen wollte ihn immer schon stürzen. Ein echter "Biden-Blunder", also Schnitzer – auch wenn viele seine Worte als moralisches Urteil über den Aggressor Putin teilen.
Krieg in der Ukraine: Ein Dilemma bleibt ungelöst
Dennoch – die Reise nach Europa ist ein Signal von geschlossener Entschlossenheit. Bei der Pressekonferenz in Brüssel hatte Biden an den G7-Gipfel im Juni 2021 erinnert, als er "America is back" postulierte. Damals habe ein Anführer – den Namen wollte er nicht nennen – gefragt: "For how long?" – Für wie lange?
Der amerikanische Präsident will beweisen, dass Amerikas Comeback kein Strohfeuer ist, aber dafür müssen die Bündnispartner geschlossen bleiben, um Putin eine strategische Niederlage beizubringen. Natürlich kann Joe Biden dabei krachend scheitern.
Wie auch immer es ausgeht, ein schreckliches Dilemma bleibt ungelöst, eine entscheidende Frage offen: Ist der Preis – eine völlig zerstörte Ukraine, Tausende, vielleicht gar Zehntausende Todesopfer und zig Millionen Flüchtlinge – nicht viel zu hoch, dass eine 'moralische' Außenpolitik diesen Namen noch verdient?
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