Rund 200 Täter und Hunderte, womöglich sogar Tausende Opfer von Missbrauch hat es laut einer Studie im Bistum Münster gegeben. Die Forscher sprechen von Versagen und Vertuschung.
Die Zahl der beschuldigten Priester und Missbrauchsopfer im Bistum Münster ist nach einer Studie der Universität Münster deutlich höher als bekannt.
Laut der mehr als zwei Jahre dauernden Forschungsarbeit eines fünfköpfigen Teams gab es von 1945 bis 2020 fast 200 Kleriker und bekannte 610 minderjährige Opfer von sexuellem Missbrauch. Damit sind 4,17 Prozent der Priester betroffen. Die Dunkelziffer ist erheblich höher. Die Forscher gehen von 5.000 bis 6.000 Opfern aus.
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Christof May, Leiter des Limburger Priesterseminars wurde Donnerstag tot aufgefunden. Zuvor war er nach einem Gespräch zu Vorwürfen "übergriffigen Verhaltens" freigestellt worden.
Forscher sprechen von Vertuschung
Der Historiker Thomas Großbölting widersprach bei der Vorstellung der Studie am Montag der Schilderung des 2008 verstorbenen Bischofs Reinhard Lettmann, der von Einzelfällen gesprochen hatte. Missbrauchsfälle habe es flächendeckend in allen Dekanaten des Bistums gegeben und viele hätten davon gewusst, sagte Großbölting und sprach von Vertuschung.
Nachweisen konnten die Forscher jahrzehntelanges Versagen in der Bistumsleitung und Strafvereitelung in verschiedenen Fällen. Teils seien Täter in andere Bistümer oder ins Ausland versetzt worden. Die Flucht in andere Staaten sei durch kirchliche Netzwerke wie Caritas international gelungen.
Studie: Verurteilte in der Seelsorge eingesetzt
Die früheren Münsteraner Bischöfe Michael Keller (Amtszeit 1947-1961), Joseph Höffner (1962-1969), Heinrich Tenhumberg (1969-1979) und Reinhard Lettmann (1980-2008) hätten verurteilte Geistliche immer wieder in der Seelsorge eingesetzt und damit weitere Taten ermöglicht, heißt es in der Untersuchung. Höffner habe beim Zweiten Vatikanischen Konzil (1962-1965) Kontakte ins Ausland geknüpft.
Ein Vorwurf in einem Fall trifft auch den heutigen Essener Bischof Franz-Josef Overbeck, der früher Weihbischof in Münster war. Overbeck habe 2009 als Übergangsleiter des Bistums entschieden, den Fall eines beschuldigten Mitarbeiters nicht der Missbrauchskommission vorzulegen. Die Vorwürfe gegen den heute noch lebenden Geistlichen aus dem Jahr 1997 seien damit nicht vollständig aufgearbeitet.
Der Historiker Großbölting kommt zu dem Schluss:
Auch Laien hätten einen Priester als "heiligen Mann" betrachtet und zur Vertuschung beigetragen, so Großbölting. Auf inzwischen umgesetzte Maßnahmen zur Prävention und Aufklärung müsse nun auch eine Debatte über die Machtstrukturen folgen.
Bischof Genn: Bin Teil der kirchlichen Systems
Dem aktuellen Bischof Felix Genn werfen die Forscher vor, in den vergangenen Jahren gegenüber Tätern nicht die nötige Strenge als Vorgesetzter gezeigt zu haben, wenn diese Reue geäußert hätten.
Nach fünf Monaten Auszeit ist der umstrittene Kölner Erzbischof Woelki zurück im Amt. Er habe dem Papst seinen Rücktritt angeboten, teilte das Erzbistum mit.
Der Bischof dankte neben dem Forscherteam auch den Betroffenen, dass sie ihr Leiden offenbart hätten. Die Studie sei nicht das Ende der Aufklärung. Weiter betonte Genn, dass er persönliche und institutionelle Verantwortung übernehmen wolle.
Am Freitag will sich der Bischof vor Journalisten über Konsequenzen äußern.
Betroffene: Aufarbeitung von Missbrauch nicht Kirche überlassen
Die Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung, Kerstin Claus, und das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) lobten den historischen Ansatz der Studie. Dieser ermögliche es, den Fokus auf kirchensystemische Faktoren zu richten, welche die Taten begünstigt und ihre Aufdeckung verhindert hätten.
in einem Gutachten zu Missbrauchsfällen im Erzbistum München wurden Anfang des Jahres auch Vorwürfe gegen den früheren Papst Benedikt und Kardinal Marx erhoben.
Nach den Worten von Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) zeigt die Studie, dass es bei Aufklärung und Aufarbeitung noch großen Handlungsbedarf gebe. Die Aufarbeitung bereits verjährter Taten bleibe nicht allein den Kirchen überlassen.
Der Sprecher der Betroffenenorganisation "Eckiger Tisch", Matthias Katsch, forderte, die Aufarbeitung der sexuellen Gewalt der Kirche aus der Hand zu nehmen. Es könne nicht sein, dass die "Täterorganisation" freiwillig Gutachten in Auftrag gebe.