Der Brexit kommt in der Nacht. Boris Johnson versucht das als finalen Triumph zu verkaufen - täuscht so aber über die zahllosen offenen Baustellen hinweg.
Der Brexit ist immer noch nicht geschehen, der Premier hat noch nicht gesprochen, aber wir wissen schon ungefähr, was er sagen wird, zum Abschied des Vereinigten Königreichs aus der EU, nach genau 47 Jahren und einem Monat. Seine Pressestelle hat am Vorabend des historischen Termins verraten, dass Boris Johnson der Nation verkünden wird: Dies sei kein Ende, sondern ein Anfang. Außerdem verspricht der Premier, dass er nun das volle Potential des Landes entfalten wolle.
Um die Botschaft zu unterstreichen, dass jetzt alles anders werde, und dass auch Menschen außerhalb der Ballungsgebiete in Zukunft eine Zukunft haben sollen, fand am Morgen des Austrittstages eine Sitzung des Kabinetts im Nordosten des Landes, in Sunderland statt: dem Sitz von Nissan, einer Gegend, in der deutlich für den Brexit gestimmt wurde und die rund 400 Kilometer von London entfernt ist. Die Symbolik ist stark, die Regierung kommt zu den Menschen, was aber bringt sie mit?
Konservative wollen Erfolgsstimmung verbreiten - mit allen Mitteln
"Dies ist der Moment, in dem der Morgen dämmert und der Vorhang sich für einen neuen Akt hebt", heißt es übermäßig poetisch in der Vorankündigung der großen Rede an die Nation, die Premier Johnson am Freitagabend halten wird. Nur: Was dann auf der Bühne zu sehen sein wird, verrät Johnson immer noch nicht.
Einen Freihandelsdeal mit der EU strebt er an. Niemand glaubt, dass der in den nächsten Monaten wirklich fertig wird. Und Johnson besteht noch darauf, dass die Übergangsphase wie geplant am 31. Dezember endet. Bis dahin sehen Sie auf der imaginären Bühne fast nichts. Die Briten drucken wieder andere Pässe und geben morgen eine 50 Pence-Gedenkmünze heraus. Die Geschirrtücher, die die Konservativen aus gegebenem Anlass für 12 Pfund das Stück online anbieten, zeigen einen umrankten Premier und den Schriftzug "Got Brexit Done". Allerdings sind sie erst ab 10. Februar zu haben. Das sagt eigentlich schon alles.
Britische Regierung kann Versäumnisse nicht mehr auf die EU schieben
Get Brexit Done – so hat er es versprochen und tut so, als habe er mit dem morgigen Tage geliefert. Am liebsten wäre es Johnson, der Brexit würde nun verschwinden. Auch ohne mühsame Verhandlungen mit Brüssel wird er alle Hände voll zu tun haben, seine Versprechen einzulösen. Zum ersten Mal seit 47 Jahren kann eine britische Regierung ihre eigenen Fehler und Versäumnisse nicht mehr auf die EU schieben. Auch wenn sie es vermutlich weiterhin versuchen wird.
Johnson wollte den Brexit, nun hat er ihn und trägt die Verantwortung für seine Ausgestaltung. Die Prognosen sind eindeutig: Je stärker Großbritannien von der EU abweichen wird, desto größer der Schaden an der Wirtschaft. Tony Blairs ehemaliger Europa-Staatsminister Denis MacShane mahnt:
Wird sich Großbritannien trotzdem weiterhin eng an der EU orientieren?
Besonders die Bürger im Norden, von denen viele zum ersten Mal in ihrem Leben konservativ gewählt haben, würden unter Handelsbarrieren mit der EU leiden. Daran kann Johnson kein Interesse haben. Und das eröffnet die Möglichkeit, dass BRINO, der Brexit In Name Only, wieder aufersteht. Die Mitherausgeberin des konservativen Magazins "Spectator", Katy Balls, sagt: "Es wird viel davon die Rede sein, dass wir jetzt nach dem Brexit die Freiheit haben, von EU-Regelungen abweichen zu können" - um dann auf Abweichungen zu "verzichten".
In den außenpolitischen Entscheidungen der letzten Wochen hat Johnson sich eng an die EU gehalten. Im Konflikt mit dem Iran blieb er auf europäischem Kurs und trat in Widerspruch zu Trump. Erst am Dienstag hat sich die Regierung beim Thema 5G für eine Zusammenarbeit mit der chinesischen Kommunikationsfirma Huawei entschieden – gegen massive Drohungen aus den USA.
Wenn Johnson nun auf Schmusekurs macht und sich eine Sonderbeziehung à la carte wünscht, bei der sich trotz Austritts möglichst wenig ändert, was macht die EU dann? Gibt sie nach, weil sie Großbritannien lieber Rosinen hinwirft als sich und den Nachbarn weiter zu beschädigen? Bleibt sie hart, weil alle Drohungen der letzten Jahre sonst sehr hohl klingen und andere Mitgliedsstaaten sonst auch Extrawürste verlangen? Die Aufregung um den Brexit wird mit dem Byebye von der Insel abebben, das Königreich ist formell raus. Doch das Brexit-Drama ist noch längst nicht vorbei, es fängt am 1. Februar erst so richtig an.