Diakonie-Chef Lilie: Debatte ums Bürgergeld "überflüssig"

    Interview

    Kritik der Diakonie:Bürgergeld: "Eine überflüssige Debatte"

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    Weiter Streit ums Bürgergeld - für Diakonie-Chef Lilie eine "überflüssige ideologische Debatte". Die Idee der Union, nur die Regelsätze anzuheben, sei ein "schlechter Kompromiss".

    Beim Bürgeld sollte es eigentlich darum gehen, Arbeitssuchende mehr Chance zu geben. Jetzt, sagt Diakonie-Präsident Lilie, sei eine "hochideologische Debatte" ohne Fakten entstanden.
    Beim Bürgeld sollte es eigentlich darum gehen, Arbeitssuchende mehr Chance zu geben. Jetzt, sagt Diakonie-Präsident Lilie, sei eine "hochideologische Debatte" ohne Fakten entstanden.
    Quelle: dpa

    ZDFheute: Herr Lilie, Sie ärgern sich über die Diskussion um das Bürgergeld. Was befürchteten Sie, wenn es nicht kommt?
    Ulrich Lilie: Ich bin irritiert, weil dann eine ganze Reihe von notwendigen Verbesserungen ausgerechnet für die ärmsten Menschen mitten in der Energiekrise und Rekordinflation nicht greifen würden. Da wäre zum einen die Erhöhung der Regelsätze, die dringend notwendig ist.
    Denn den Menschen fehlt jetzt schon das Geld für das Lebensnotwendige. Von den Tafeln zum Beispiel bekommen Rückmeldungen, dass sie ihre Kunden in A- und B-Wochen einteilen müssen. Auch die Schuldnerberatungsstellen berichten von einem großen Andrang.
    ZDFheute: Und zum anderen?
    Lilie: Ende Dezember laufen die Corona-Sonderregelungen zum vereinfachten Antragsverfahren aus, welche die CDU/CSU damals übrigens ausdrücklich begrüßt hatte. Dann müssten ausgerechnet in dieser angespannten Situation die Jobcenter wieder aufwändig prüfen, ob die Wohnung und das Vermögen angemessen sind.
    Menschen, die seit kurzem im Leistungsbezug sind, müssten sich wieder um ihre Wohnung sorgen und aus dem zu niedrigen Regelsatz auch noch draufzahlen.
    Und der dritte Aspekt: Die Personalräte der Jobcenter sagen, dass diese komplett auf Kante genäht sind. Sie haben massiven Personalmangel. Unsere Beratungsstellen sagen, dass die Antragsverfahren jetzt schon viel zu lange dauern. Die Menschen sind aber in akuten finanziellen Notlagen, während sie auf die Verfahren warten.

    Das ist alles nicht verantwortbar.

    Ulrich Lilie

    ZDFheute: Dann ist der Vorschlag der Union, jetzt nur die Regelsätze anzuheben und den Rest später zu diskutieren, wenig hilfreich?
    Lilie: Das ist ein ganz schlechter Kompromiss. Die Menschen brauchen zum Januar neben der Erhöhung der Regelsätze eben auch die Karenzzeitregelung. Nur das stärkt die soziale Sicherheit und entlastet die Verwaltungen, damit die Grundsicherung schnell bei den Menschen ankommt.
    Und, das sollte auch nicht vergessen werden, im Bürgergeld-Gesetz sind eine Reihe von Regelungen, um Erwerbslose nachhaltig wieder in Arbeit zu bringen. Das hatte die Union auch ausdrücklich begrüßt. Und darum geht es ja! Das muss jetzt beschlossen werden, damit die Jobcenter das im Laufe des nächsten Jahres umsetzen können. Sonst haben wir wieder ein Sankt-Nimmerleins-Datum.
    ZDFheute: Hat die Union nicht recht, wenn Ihnen etwa im neuen Gesetz die Karenzzeit, wonach Vermögen erst nach zwei Jahren eingebracht werden müssen, zu lang ist?
    Lilie: Den ganzen lauten Streit um die Sanktionen muss man versachlichen.

    Es gibt im neuen Gesetz keine Abschaffung von Sanktionen.

    Ulrich Lilie

    Es gibt eine Abmilderung, die eine Reaktion auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass die mit Hartz-IV aufgebauten Drohkulissen nichts verändern. Sie sind letztlich wirkungslos.
    Ulrich Lilie zu Gast
    Ulrich Lilie, Präsident der Diakonie Deutschland, ist zu Gast bei Andrea Ballschuh am "Volle Kanne"-Frühstückstisch28.09.2022 | 79:58 min
    Es ist doch unstrittig: Wer staatliche Leistungen erhält, muss mitwirken. Aber wir wissen, dass es bei Langzeitarbeitslosen viele Vermittlungshindernisse gibt. Diese Menschen haben oft psychische Probleme, da helfen Sanktionen nicht.

    Da hilft es auch nicht, ein Bild von Totalverweigerern aufzubauen, die man jetzt mit der Peitsche zur Vernunft bringen muss. Das ist ein verzerrtes und stigmatisierendes Bild von Menschen, die Hartz IV bekommen.

    Ulrich Lilie

    Die Menschen brauchen Unterstützung und keine Sanktionen.
    ZDFheute: Worum geht es dann in diesem Streit?
    Lilie: Es geht um Symbole in der Politik. Ich würde mir sehr wünschen, dass es stattdessen mehr um den erforderlichen fachlichen Pragmatismus und viel weniger um politische Ideologie geht.

    Es ist wenig hilfreich, wenn wir jetzt wieder in einen faktenbefreiten Streit um politische Fetische zurückfallen.

    Ulrich Lilie

    In dieser angespannten sozialen Situation wäre das auch ein fatales politisches Signal.
    ZDFheute: Ist das Kind nicht schon längst in den Brunnen gefallen? Die Ampel-Parteien und die Union kämpfen mit harten Worten gegeneinander: unanständig, unchristlich, Lügen im Stile Trumps?
    Lilie: Es ist eine überflüssige ideologische Debatte um ein politisches Symbol entstanden. Alle sind sich doch einig, dass sich Arbeit lohnen muss. Auch dass es ein Lohnabstandsgebot zwischen Geringverdienern und Erwerbslosen geben muss. Das wird auch erfüllt, wenn man richtig rechnet.
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    ZDFheute: Setzt die Union damit die "Sozialtourismus"-Debatte fort, die CDU-Chef Friedrich Merz gegenüber den Flüchtenden aus der Ukraine angestoßen hatte?
    Lilie: Hier wird jedenfalls eine hochideologische Debatte geführt, die auf der Sachebene nicht gerechtfertigt ist.
    ZDFheute: Welche Folgen hat das? Auf der einen Seite werden bei 50 Euro geknapst, auf der anderen Milliarden für alles Mögliche aufgewendet?
    Lilie: Das ist der Punkt. Wir geben derzeit zurecht viel Geld aus, um die Zukunft von Unternehmen und des Mittelstands zu sichern. Das ist alles angemessen und richtig. Aber wir dürfen nicht die Situation entstehen lassen, in der sich ein gutes Drittel dieser Gesellschaft, nämlich 15 bis 20 Millionen Menschen, von der Politik abgehängt fühlen.
    Das verschärft das sozialpolitische Klima. Dann darf man sich über den Zulauf bei Montags- und Mittwochsdemonstrationen überall im Land nicht wundern.
    Das Interview führte Kristina Hofmann.
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