Noch nie war der Bundestag größer, noch nie war er teurer. Eine echte Begrenzung gelingt seit Jahren nicht. Jetzt präsentieren Ampel-Vertreter einen radikalen Reform-Vorschlag.
"Warum sägen Sie eigentlich am Ast, auf dem Sie selbst sitzen?", wird der Grünen-Abgeordnete Till Steffen gefragt. Bei der Antwort bleibt er im Botanik-Bild: "Wenn man Bäume nicht gelegentlich zurückstutzt, tragen sie keine Früchte mehr." Der Baum, das ist der immer weiter wachsende Bundestag. 598 Volksvertreter sind Soll-Größe, aktuell sitzen schon 736 Abgeordnete im Parlament. Tendenz steigend.
Die Verantwortlichen mussten diesmal bereits ein neues Bürogebäude bauen. Und nach aktuellem Wahlrecht könnte der Bundestag theoretisch noch bis ins Unendliche wachsen.
Ampel will mit Überhangmandaten brechen
Schuld ist die komplizierte Koexistenz von Personen- und Parteiwahl im deutschen Wahlrecht. Entscheidend für das Kräfteverhältnis im Bundestag ist die Zweitstimme, mit der wir Parteien wählen. Mit der Erststimme aber wählen wir gleichzeitig auch direkt Personen.
Und die ziehen auf jeden Fall in den Bundestag ein, selbst wenn das durch das Partei-Ergebnis (Zweitstimme) nicht gerechtfertigt ist. Dann entstehen sogenannte Überhangmandate, die wiederum zugunsten der anderen Parteien ausgeglichen werden müssen. Mit diesem Grundsatz aber will ein Vorschlag von Ampel-Vertretern jetzt brechen.
Nicht jeder Sieger kommt ins Parlament
Sebastian Hartmann (SPD), Till Steffen (Grüne) und Konstantin Kuhle (FDP) sind entscheidende Vertreter ihrer Parteien in der neuen Wahlrechtskommission, die eingesetzt wurde, um das Dauerproblem des übergroßen Bundestages zu lösen. Diese drei wagen sich jetzt vor mit einem persönlichen Vorschlag - zuerst präsentiert in einem gemeinsamen Gastbeitrag für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung".
Im Kern sieht dieser Plan so aus: Ausschließlich die Zweitstimme entscheidet über die Größe des Bundestages. Wer ein Direktmandat erringt, es aber nicht mit dem Wahlergebnis seiner Partei in der Zweitstimme untermauern kann, kommt nicht rein. Ein gewonnener Wahlkreis ist also keine Garantie mehr für einen Sitz im Bundestag.
Drittes Kreuz auf dem Wahlzettel?
Wer aber darf ins Parlament, wenn der Erstplatzierte es aufgrund seiner schwächeren Partei nicht darf? Dafür schlagen die drei Abgeordneten eine kleine Revolution vor. Ein weiteres Kreuz auf dem Wahlzettel - die sogenannte "Ersatzstimme". Damit kann man dann angeben, wen man "am zweitliebsten" im Parlament hätte.
Über einen Verrechnungsmechanismus wird so die- oder derjenige ermittelt, der zum einen die meisten Erst- und Ersatzstimmen auf sich vereint und zum anderen das nötige Partei-Ergebnis mitbringt.
Aus der Unionsfraktion kommt lauter Protest. Die Koalition plane da eine Entwertung des Wahlkreis-Gedankens und schüre Politikverdrossenheit, meint der Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei (CDU), im "FAZ"-Interview.
Der mit dem Thema befasste CSU-Abgeordnete Michael Frieser sagt zu ZDFheute, die Arbeit der Wahlrechtskommission würde "ad absurdum" geführt, wenn man solche Vorschläge jetzt vorher in der Zeitung lesen müsse. Tatsächlich stellt sich die Frage, wie es die Wählerinnen und Wähler aufnehmen würden, wenn die oder der Erste bei den Erststimmen dann doch nicht ins Parlament dürfe.
Experte: Neuer Maßstab gesetzt
Professor Robert Vehrkamp beschäftigt sich für die Bertelsmann-Stiftung seit Jahren mit dem Wahlrecht und ist als Sachverständiger Mitglied in der Wahlrechtskommission des Bundestages.
Gegenüber ZDFheute sagt er, mit dem Vorschlag werde "wieder Schwung in die Angelegenheit kommen und ein neuer Maßstab gesetzt". Tatsächlich könne die Reformidee die Grundprobleme aus dem Weg räumen. Der Bundestag bliebe bei 598 Abgeordneten, jeweils 299 direkt und über die Liste gewählt, der Parteien- und Föderalproporz bliebe gewahrt und auch die Wahlkreise könnten bleiben, wie sie sind.
Am Donnerstag will die Wahlrechtskommission erstmals über den Vorschlag beraten. Die Diskussionen dürften hitzig werden. Dabei ist allen Beteiligten klar: Ein nochmaliges Scheitern einer echten Wahlrechtsreform, ein nochmals größerer Bundestag - das wäre den Wählerinnen und Wähler nicht zu vermitteln. Dann könnte ein Vertrauensverlust drohen, der an die Wurzeln geht.