Der Ukraine-Krieg hat einen Informationshunger in der Bevölkerung geweckt - nach Militär und Sicherheitspolitik. Die Bundeswehr selbst hält sich aus diesen Debatten oft heraus.
Zu den Hochzeiten der Corona-Pandemie saßen die Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und Karl Lauterbach (SPD) jeweils wöchentlich mit Experten in der Bundespressekonferenz und stellten sich kritischen Fragen. Der Ukraine-Krieg ist eine Dauerkrise von ähnlicher Tragweite. Doch hier: keine Ministerin, keine aktiven Soldatinnen und Soldaten, die persönlich militärische Details vermittelt.
Stattdessen ist es eine kleine Riege an Generalen a.D., die seit Jahren in die Talkshows eingeladen wird, wann immer es um die Bundeswehr geht - und deren Aussagen zur Ukraine teils heftigen Widerspruch anderer Experten hervorrufen. Primär wird der Ukraine-Krieg von Personen besprochen, die nicht aus dem Militär kommen oder bei denen das schon lange her ist.
Fehlende Bundeswehr führt zu fehlendem Fachwissen
Sönke Neitzel, Professor für Militärgeschichte an der Universität Potsdam, fordert gegenüber ZDFheute mehr Flecktarn in der öffentlichen Debatte:
Das Fehlen sicherheitspolitischer Expertise macht sich bemerkbar. Informationslücken sieht Neitzel sowohl in der breiten Gesellschaft als auch unter Journalisten. "Insbesondere im öffentlich-rechtlichen Rundfunk wird vergleichsweise wenig über militärische Aspekte berichtet. Dort stehen eher politische und soziale Themen des Krieges im Vordergrund", sagt Neitzel. "Hinzu kommt, dass mancher Reporter offensichtlich ahnungslos ist, was die Beurteilung militärischer Aspekte anbelangt."
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Bundeswehr auf YouTube erfolgreich
Das Aushängeschild der Kommunikation der Bundeswehr in Sachen Ukraine ist das Interviewformat "Nachgefragt" auf YouTube. Einmal wöchentlich spricht dort ein hoher Bundeswehrvertreter zum Krieg, zu Nato-Strategien oder dem Sondervermögen. Hunderttausende Aufrufe sammeln die Folgen ein. Auf diesen Erfolg sei man stolz, erzählen Presseoffiziere.
Die Fragen seien von Bürgern eingeschickt worden, gestellt werden sie von Soldatinnen und Soldaten aus der Zentralredaktion der Bundeswehr, ein kritisches journalistisches Format ist es also nicht.
Versucht man als Journalist einen der Experten aus den "Nachgefragt"-Videos für ein Interview zu gewinnen, ist das weniger leicht. Das müsse geprüft werden, könne bis zu zwei Wochen dauern, heißt es von einer zuständigen Pressestelle. Nach wenigen Tagen kommt eine Absage, auch unter Verweis auf Geheimhaltungspflichten. Auf eine andere ZDFheute-Anfrage antwortet das Zentrum Informationsarbeit Bundeswehr nicht.
Es ist Krieg in Europa. Russland hat die Ukraine überfallen. Seitdem ist nichts mehr so, wie es einmal war. Die Nato rüstet auf, Russland droht – was wird aus Europa?
So sieht die Bundeswehr selbst ihre Kommunikationsarbeit
Im Verteidigungsministerium (BMVg) betont man hingegen, dass man sich den Fragen der Journalisten dreimal wöchentlich in den Regierungspressekonferenzen stellen würde. Ein BMVg-Sprecher verweist außerdem auf den "Bürgerdialog der Bundeswehr", worüber man online, telefonisch oder per Post Auskünfte erhalten könne. Was aus Sicht des Militärs mehr Engagement verhindert: Bei Medienanfragen stünden oft politische, nicht militärfachliche Fragestellungen im Fokus.
Das Ministerium schickt ZDFheute eine Liste zurückliegender Medienauftritte der Verteidigungsministerin und hochrangiger Generäle mit. Für Brigadegeneral Christian Freuding etwa, der das Ukraine-Lagezentrum im BMVg leitet, nennt das Ministerium lediglich einen TV-Auftrit im Juni. "Oh, ein aktiver General der Bundeswehr im TV, das ist selten", merkte damals der Fachjournalist Thomas Wiegold an:
Warum sich die Bundeswehr nicht mehr einbringt
"Freundliches Desinteresse" nannte Bundespräsident Horst Köhler 2005 die Haltung der Deutschen gegenüber ihren Streitkräften. Dem Militär fällt es schwer, die Breite der Gesellschaft zu erreichen. Eine Rolle spielt dabei Vorsicht; lieber zu wenig kommunizieren als zu viel. Der militärische Habitus kann in einer weitgehend entmilitarisierten Gesellschaft zu Irritationen führen. Das Ministerium reagiert sensibel auf echte oder vermeintliche Aufreger, die die Truppe produziert.
"Es gibt in Deutschland seit Gründung der Bundeswehr die Erwartung, dass die Militärs ihren Dienst schweigend zu versehen haben. Es spricht die Politik, nicht der Fachexperte", sagt Neitzel. Was er sich von der Bundeswehr wünscht: Ein wöchentliches Briefing zur militärischen Lage und regelmäßige Spezialbriefings zu Themen, wie Luftkrieg oder Cyberwar. Und, ergänzt Neitzel: "Warum hört man eigentlich vom BND so wenig?"
Die Bundeswehr sucht Bürger, die bisher nichts mit Militär zu tun hatten, jetzt aber sich ausbilden lassen, um im Ernstfall einsatzbereit zu sein. Bei Katastrophen und für die Landesverteidigung.
Großbritannien: PR mit Geheimdienstinformationen
Das andere Extrem in Sachen Kommunikationspolitik kann man in Großbritannien sehen. Dort veröffentlicht der Militärgeheimdienst täglich Erkenntnisse zum Verlauf des Ukraine-Kriegs. Sie werden von Medien weltweit aufgegriffen - auch von ZDFheute.
Experte Neitzel findet diese Briefings "nützlich", doch nicht alle Experten sind überzeugt. Die täglichen Briefings würden "Öffentlichkeitswirkung über analytische Qualität" stellen, schreibt Jeffrey Michaels beim britischen Militär-Think-Tank Royal United Services Institute.
Ihr Daseinszweck sei primär, das Verteidigungsministerium ins Rampenlicht zu rücken, schreibt Michaels. Ein vergleichbares Format ist in Deutschland nicht geplant. Vielleicht auch, weil die Ministerin Lambrecht nach überstandener Hubschrauber-Affäre und harscher Kritik an ihrer Amtsführung ihr Haus nicht zu sehr ins Rampenlicht rücken möchte.
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Liveblog- Aktuelles zum Krieg in der Ukraine
Seit Februar 2022 führt Russland einen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Kiew hat eine Gegenoffensive gestartet, die Kämpfe dauern an. News und Hintergründe im Ticker.