In Butscha nahe Kiew wurden nach dem russischen Abzug Dutzende tote Zivilisten gefunden, teils gefesselt und mit Kopfschüssen. Was über das mögliche Kriegsverbrechen bekannt ist.
Die Kleinstadt Butscha liegt 25 Kilometer nordwestlich der ukrainischen Hauptstadt Kiew. Rund einen Monat lang kontrollierten russische Truppen die Stadt mit fast 27.000 Einwohnern. Seit dem Abzug der russischen Truppen von dort gibt es immer mehr Bilder und Berichte von getöteten Zivilisten.
Politiker aus der ganzen Welt verurteilen die mutmaßlich gezielte Tötung von Zivilisten durch russische Truppen als "Gräueltaten" und "Kriegsverbrechen". Was ist über die Ereignisse in Butscha bislang gesichert bekannt?
Wie viele Zivilisten wurden in Butscha getötet?
Nach Angaben ukrainischer Behörden seien in Butscha insgesamt rund 300 Leichen nach dem russischen Abzug gefunden worden. "Alle diese Menschen wurden erschossen", sagte Bürgermeister Anatoly Fedoruk. Es stünden Autos auf den Straßen, in denen "ganze Familien getötet wurden: Kinder, Frauen, Großmütter, Männer", so Fedoruk. Am Samstag gab er an, 280 Menschen seien in Massengräbern beigesetzt werden.
Am Sonntag meldeten die Behörden den Fund Dutzender weiterer Leichen in Butscha. Weitere 57 Menschen seien in einem Massengrab verscharrt worden, teilten die Rettungskräfte mit. Insgesamt seien seit dem russischen Abzug in den Städten außerhalb Kiews die Leichen von 410 Zivilisten gefunden worden, teilte die ukrainische Staatsanwaltschaft am Sonntag mit. Es kann sein, dass diese Zahl noch weiter ansteigt.
Die Bilder aus den Vororten von Kiew entsetzen Politiker*innen und Menschenrechtsorganisationen. Es werden immer mehr getötete Zivilisten gefunden.
Nach Zählungen von AFP-Reportern vor Ort hätten allein in der Yablunska Straße in Butscha mehr als 20 Leichen gelegen. Auf Bildern von dort ist zu sehen, dass sie zivile Kleidung tragen, mehrere hatten die Hände hinter den Rücken gefesselt. Teils deuten die Aufnahmen darauf hin, dass Menschen erschossen wurden, als sie gerade mit dem Fahrrad unterwegs waren.
Bei den meisten dieser Toten ist noch nicht abschließend gesichert, wann und unter welchen Umständen sie gestorben sind. Teils wird der Vorwurf geäußert, russische Soldaten hätten gezielt alle Männer im wehrfähigen Alter ermordet - das ist bislang nicht gesichert, auch Frauen sind unter den toten Zivilisten.
Von wem stammen die Aufnahmen der toten Zivilisten?
Die Bilder und Videos getöteter Zivilisten kommen aus verschiedenen Quellen und bestätigen einander. Neben ukrainischen Soldaten und Politikern sind seit Samstag auch Journalisten internationaler Medien vor Ort in Butscha und konnten die Getöteten mit eigenen Augen sehen, darunter die "BBC" und "CNN".
Ein Video des Verteidigungsministeriums der Ukraine zeigt Aufnahmen aus einem Fahrzeug heraus, wobei man am Straßenrand links und rechts zahlreiche Leichen sieht. Der Ort dieser Aufnahmen konnte von ZDFheute anhand von Gebäuden eindeutig in der Yablunska Straße in Butscha identifiziert werden. Mehrere der aktuell kursierenden Fotos wurden ebenfalls in dieser Straße aufgenommen.
Satellitenbilder der US-Firma Maxar, die am Sonntag veröffentlicht wurden, sollen einen knapp 14 Meter langen Graben auf dem Gelände einer Kirche in der ukrainischen Stadt Butscha zeigen. Nach ukrainischen Angaben sollen dort die Leichen Hunderter von russischen Truppen getöteter Zivilisten begraben sein. Laut Maxar wurden die Bilder am 31. März aufgenommen.
[Am Freitag wurde die Leiche des ukrainischen Fotografen Max Lewin unweit von Butscha gefunden. Eine Auswahl seiner letzten Fotos:]
Warum es bislang keine Hinweise auf eine Manipulation der Bilder gibt
Die russische Regierung behauptet indes, die Bilder aus Butscha seien inszeniert. Über seinen Telegram-Account verbreitete das russische Verteidigungsministerium am Sonntag etwa die Ansicht, dass sich Leichen in den Videoaufnahmen des ukrainischen Verteidigungsministeriums bewegt hätten. ZDFheute konnte dafür keine Belege finden, eine vermeintliche Bewegung stellte sich bei näherer Betrachtung des Videomaterials als Regentropfen an der Frontscheibe heraus.
Laut russischer Regierung hätten sich alle ihre Truppen bereits am 30. März aus Butscha zurückgezogen, zur gleichen Zeit berichteten ukrainische Medien und internationale Beobachter aber noch von Kämpfen. "In den vergangenen 24 Stunden gingen die Kämpfe in ganz Butscha, Makariw und Hostomel weiter", schreibt etwa das Institute for the Study of War in seiner Tageszusammenfassung für den 31. März.
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Erst am Nachmittag des 1. April bestätigte der Bürgermeister von Butscha offiziell, dass die Stadt wieder in ukrainischer Hand sei. Am Samstag gab das ukrainische Verteidigungsministerium bekannt, dass die gesamte Region Kiew wieder unter Kontrolle sei. Dass eine große Zahl an Bildern getöteter Zivilisten seit Samstag zirkuliert, passt zu diesem zeitlichen Ablauf und ist zunächst nicht verdächtig.
[Auch im Ort Trostjanez im Osten der Ukraine sollen russische Soldaten Zivilisten gefoltert und ermordet haben. Der "Spiegel"-Reporter Christoph Reuter berichtet im heute journal von seinen Eindrücken:]
Als die russische Armee in dem kleinen Ort Trostjanez unter Druck geriet, hätten die Soldaten geplündert, gefoltert und Menschen erschossen, sagt Spiegel-Reporter Christoph Reuter. Es gäbe keine Befehle, die sie davon abhalten würden.
Wie sicher ist es, dass russische Soldaten die Täter sind?
Korrespondenten von Nachrichtenagenturen und anderen Medien konnten mit Anwohnern sprechen, die weitere Angaben zu den Geschehnissen machten. Die Zivilisten seien von russischen Soldaten ohne erkennbare Provokation getötet worden, berichtet die Agentur AP:
Auch die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch wirft der russischen Armee Kriegsverbrechen wie Hinrichtungen und Plünderungen vor. Sie veröffentlichte am Sonntag einen Bericht basierend auf den Schilderungen von Augenzeugen.
Darunter ist die Erschießung eines Mannes am 4. März in Butscha. Ein Zeuge berichtete, dass fünf Männer von Soldaten gezwungen worden seien, am Straßenrand niederzuknien. Dann hätten die Russen ihnen die T-Shirts über den Kopf gezogen und einem von ihnen von hinten in den Kopf geschossen. Eine formelle Untersuchung der Ereignisse in Butscha steht noch aus.
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